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Ein Anlass dieses Beitrags ist die Rezension zum Buch von Norbert Gross: Was blieb von Kaisers Recht in Elsass-Lothringen? aus dem Jahr 2022. Dort geht es um "Kaisers Recht", das bis heute in den drei nordöstlich gelegenen französischen Départements gilt und für den Erbrechtler relevant ist. Aber nicht nur "des Kaisers alter Erbschein" soll uns beschäftigen, sondern, wenn wir uns auf französischem Territorium befinden, wesentliche Unterschiede zwischen französischem und deutschem Erbrecht. Das Erbschaftsteuerrecht, hochinteressant wegen des "Pacte Dutreil", kann an dieser Stelle lediglich angedeutet werden.
1. "Des Kaisers alter Erbschein"
Existieren Erbscheine, wie wir sie klassischerweise in Deutschland kennen, auch in Frankreich? Ja, es gibt sie, denn sie stellen eine der Besonderheiten dar, die sich aus der Übernahme und Beibehaltung deutschen Rechts in den drei nordöstlich gelegenen Départements der Französischen Republik erhalten haben: Bas-Rhin, Haut-Rhin und Moselle. Dort gilt droit local, französisches Recht wird allgemein als droit commun bezeichnet.
Zwar wurde durch Art. 1 Nr. 1a des zivilrechtlichen Einführungs- und Überleitungsgesetzes vom 1.6.1924 das allgemeine, in ganz Frankreich geltende materielle Erbrecht des Code civil eingeführt. Doch sahen schon die Art. 73-77 des Einführungs- und Überleitungsgesetzes die Fortgeltung des formellen Erbscheinverfahrens vor, das in Frankreich allgemein nicht bekannt ist; dort muss man sich außerhalb der drei Ost-Départements mit einer notariellen oder sonstigen Offenkundigkeitserklärung (acte de notoriété) zufrieden geben. Die außergerichtliche Praxis kennt diverse Bescheinigungen, wovon der acte de notoriété sich als der übliche entwickelt hat.
Im ehemaligen Elsass-Lothringen hingegen wird bis in unsere Zeit durch das dem Amtsgericht entsprechende Tribunal d'instance, seit 1.1.2020 Tribunal judiciaire genannt, noch ein Erbschein ausgestellt, der auf das deutsche Erbrecht zurückgeht. Insofern dürfen wir in Anlehnung an das bekannte Märchen "Des Kaisers neue Kleider" und den Buchtitel, den Norbert Gross gewählt hat, von "des Kaisers altem Erbschein" sprechen. Allerdings gelten in den drei Départements die Art. 2353-2368 des lokalen Code Civil, welche denen der §§ 2353-2368 des deutschen BGB entsprechen, fort. Sodann natürlich das materielle französische Erbrecht (droit commun) wie im ganzen Land.
Dieser Erbschein kann gem. Art. 77 Abs. 2 des zivilrechtlichen Einführungs- und Überleitungsgesetzes vom 1.6.1924 sogar in ganz Frankreich Wirkung entfalten. Hinzu traten weitere Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften in Erbsachen, welche aus dem Tribunal judiciaire und dessen auswärtigen Kammern (tribunaux de proximité) funktional gesehen "Nachlassgerichte" schufen, welche allerdings nicht als solche bezeichnet werden.
Ferner gilt diese Wirkung für Erbfälle seit dem Inkrafttreten der EuErbVO, d.h. seit 17.8.2015, in der Europäischen Union, sofern nach Maßgabe der Art. 62 ff. EuErbVO ein Europäisches Nachlasszeugnis mit den Wirkungen des Art. 69 EuErbVO beantragt wird.
Norbert Gross schlussfolgert konzise:
Zitat
"Ähnlich wie im Grundstücksrecht hat auch im Erbrecht das unter richterlicher Aufsicht stehende formelle Kaisers Recht aus Gründen des gesicherten Rechtsverkehrs überlebt" (S. 42).
Was lernen wir generell aus der Neuerscheinung?