Angesichts der Schnelligkeit mit der die Finanzverwaltung auf (bislang noch gar nicht veröffentlichte) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts reagiert, erstaunt es, dass entsprechende Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof bislang kaum zur Kenntnis genommen werden. Die entsprechende Vorschrift der deutschen Abgabenordnung zur vorläufigen Steuerfestsetzung (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO) lautet auszugsweise wie folgt:
"Soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind, kann sie vorläufig festgesetzt werden. Diese Regelung ist auch anzuwenden, wenn (...) 3. die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (...) ist (...)"
Derzeit sind (mindestens) zwei Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig, bei denen es um die Vereinbarkeit von Vorschriften des deutschen Erbschaftsteuer- und Bewertungsrechts mit den europäischen Grundfreiheiten geht.
Der Vorlagebeschluss des Zweiten Senats des Bundesfinanzhofs vom 16.1.2008 betrifft u. a. die Frage, ob es mit den vorrangigen Bestimmungen des Europarechts vereinbar ist, dass die spanische Erbschaftsteuer auf Bankguthaben in Spanien nicht auf die deutsche Erbschaftsteuer angerechnet werden kann (§ 21 ErbStG).
Bei der Vorlage des Finanzgerichts Hamburg vom 11.8.2006 geht es um die Frage, ob die unterschiedliche Bewertung von Anteilen an inländischen und ausländischen Beteiligungen an Personengesellschaften europarechtskonform ist (siehe § 12 Abs. 6 ErbStG und § 31 BewG). Die Generalanwältin Verica Trstenjak hat in ihren Schlussanträgen vom 10.1.2008 einen Verstoß gegen das Europarecht bejaht.
Gleichwohl erfolgt in den entsprechenden Fällen bislang keine vorläufige Festsetzung der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Angesichts des Anwendungsvorrangs des Europarechts erscheint diese Praxis der Finanzverwaltung rechtsstaalich außerordentlich bedenklich. Der Steuerpflichtige ist in entsprechenden Fällen gezwungen, die Steuerfestsetzung durch Einspruch offen zu halten.
In einem weiteren Verfahren hat der Europäische Gerichtshof auf Vorlage des Zweiten Senats des Bundesfinanzhofs zwischenzeitlich festgestellt, dass die Bestimmungen des deutschen Erbschaft- und Schenkungsteuerrechts insoweit gegen Europarecht verstoßen, als die Vergünstigungen für land- und fortwirtschaftliches Vermögen auf in Deutschland belegenes Vermögen beschränkt sind (§ 12 Abs. 6 ErbStG und § 13 a Abs. 4 Nr. 2 ErbStG). Eine vorläufige Steuerfestsetzung ist in der Vergangenheit insoweit nicht erfolgt. Eine Stellungnahme der Finanzverwaltung, wonach die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zumindest in allen noch offenen Fällen angewendet wird, fehlt bislang gleichfalls.
Insgesamt bestehen gegen zahlreiche Vorschriften des deutschen Erbschaftsteuergesetzes europarechtliche Bedenken. Steuerpflichtige sollten daher im Einzelfall prüfen, ob sie gegen entsprechende Erbschaft- und Schenkungsteuerbescheide Einspruch einlegen.