An dieser Stelle interessiert allein das Vermächtniskürzungsrecht des Erben nach § 2318 BGB.
1. Ist der dem pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmer entgegen § 2307 Abs. 1 Satz 2 BGB zusätzlich, ohne Anrechnung des Vermächtnisses belassene Pflichtteil nichts anderes als ein zusätzliches Vermächtnis, ist dieses dann in Ansehung weiterer Pflichtteilslasten gegenüber Dritten dem Kürzungsrecht des Erben nach § 2318 BGB ausgesetzt.
Steht aber das Vermächtnis selbstständig neben dem Pflichtteil, wird dieses also zusätzlich gewährt, ohne den Pflichtteil anzutasten, dann kommt ein Vermächtniskürzungsrecht des Erben auch in Ansehung des eigenen Pflichtteils des Vermächtnisnehmers in Betracht. § 2318 BGB regelt nämlich ohne Einschränkung ein Kürzungsrecht in Anbetracht aller Pflichtteilslasten des Erben.
2. Anhand eines Beispielsfalls mit Abwandlung soll die Auswirkung der Abgrenzung von Pflichtteil und Vermächtnis auf das Vermächtniskürzungsrecht des Erben dargestellt werden.
Fall 1
Einer pflichtteilsberechtigten Erbin E ist vom letztversterbenden Elternteil ein Nachlass im Wert von 300.000,00 EUR hinterlassen. Ihrem Bruder V wurde letztwillig ein Grundstücksvermächtnis im Wert von 180.000,00 EUR zugewendet mit der Bestimmung, dass dieses nicht auf seinen Pflichtteil angerechnet werden soll. Weitere Pflichtteilsberechtigte sind nicht vorhanden.
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Sofern letztwillig nicht gewollt ist, dass das Vermächtniskürzungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt sein soll, also keine abweichende Anordnung nach § 2324 BGB getroffen wurde, was stets zu prüfen und mangels ausdrücklicher Anordnung durch Auslegung zu ermitteln ist, wollte der Erblasser nur § 2307 Abs. 1 Satz 2 BGB ausschließen, wonach dem Bruder V ein Recht auf den Pflichtteil nicht zustehen soll, soweit der Wert des Vermächtnisses reicht. Sein Pflichtteil soll selbstständig neben dem Vermächtnis in einem kumulativen Verhältnis zueinander stehen bleiben. Daraus folgt zwingend, dass die Erbin E das Vermächtnis ihres Bruders V in Ansehung des eigenen Pflichtteils des V nach § 2318 Abs. 1 BGB kürzen kann. Denn ohne weiteren Anhalt für einen Ausschluss oder eine Beschränkung des Vermächtniskürzungsrechts nach § 2324 BGB lässt sich nämlich aus der bloßen Formulierung "keine Anrechnung des Vermächtnisses auf den Pflichtteil" nicht ableiten, der Erblasser habe gewollt, V solle seinen Pflichtteil aus dem vollen Nachlasswert von 300.000,00 EUR unter Einschluss des ihm zugewendeten Grundstücksvermächtnisses berechnen können, mithin am Vermächtnis nochmals zu der Pflichtteilsquote partizipieren können, also mehrfach begünstigt sein, während die Erbin E entgegen Sinn und Zweck des § 2318 BGB keinen Ausgleich dafür verlangen können soll, dass bei der Pflichtteilsberechnung ein Vermächtnis als nachrangig vom Nachlasswert nicht abgezogen werden kann. |
E und V wären gesetzlich je zur Hälfte zu Erben berufen gewesen. Der Pflichtteil des V besteht in der Hälfte des Werts des gesetzlichen Erbteils und beläuft sich auf 75.000,00 EUR. Nach der Martin’schen Formel kann die Erbin E das Vermächtnis um
kürzen. Der Bruder V erhält mithin ein Grundstücksvermächtnis im Wert von 180.000,00 EUR abzgl. Kürzung 45.000,00 EUR = 135.000,00 EUR + Pflichtteil 75.000,00 EUR, insgesamt also 210.000,00 EUR, während der Erbin E aus dem Nachlasswert von 300.000,00 EUR abzgl. 210.000,00 EUR lediglich 90.000,00 EUR verbleiben.
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Nimmt man hingegen wegen des gewährenden Charakters des dem Bruder V entgegen § 2307 Abs. 1 Satz 2 BGB belassenen Pflichtteils ein zusätzliches Vermächtnis, ein sogenanntes Pflichtteilsvermächtnis, in Höhe von 75.000,00 EUR an, erhält V neben dem Grundstücksvermächtnis von 180.000,00 EUR ein weiteres Vermächtnis von 75.000,00 EUR, also ein insgesamtes Vermächtnis von 255.000,00 EUR. Der Erbin E verbleibt ein Nachlasswert von 45.000,00 EUR, mithin weniger als ihr eigener Pflichtteil von 75.000,00 EUR. Sie kann in diesem Fall die zugewendeten Vermächtnisse auch nicht nach § 2318 Abs. 3 BGB kürzen, damit ihr wenigstens ihr eigener Pflichtteil verbleibt, denn § 2318 Abs. 3 BGB regelt nur ein erweitertes Kürzungsrecht gem. § 2318 Abs. 1 BGB, setzt also die Erfüllung von Pflichtteilsansprüchen Dritter voraus. Der Erbe muss es nicht hinnehmen, dass ihm nach Erfüllung von Pflichtteilsansprüchen und Vermächtnisansprüchen weniger verbleibt als sein eigener Pflichtteil. § 2318 Abs. 3 BGB regelt aber nicht, dass dem Erben unabhängig von der Höhe der Belastung des Erbteils stets der volle Pflichtteilswert verbleiben muss, denn dies würde sowohl § 2306 Abs. 1 Satz 2 BGB aF als auch § 2306 BGB nF widersprechen, wonach ein Erbe, der einen belasteten Erbteil angenommen hat, auch diese Belastungen erfüllen muss. Hier hilft nur die Ausschlagung nach § 2306 Abs. 1 Satz 2 BGB aF bzw. die Ausübung des generellen Wahlrechts nach § 2306 BGB nF zugunsten des Pflichtteils. |
Die Abgrenzung Pflichtteil/Vermächtnis kann also erhebliche praktische Bedeutung für die Entscheidung über die Ausschlagung eines...