Zwei Komplexe höherrangigen Rechts sind es, vor denen die Reform 2023 bestehen muss, nämlich erstens die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)[158] mit ihren spezifischen Anforderungen an die Vertragsstaaten und zweitens das Grundgesetz mit seinen spezifischen Anforderungen an den Gesetzgeber.

[158] BGBl II 2008, 1419, 1420.

I. UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK)

Die UN-BRK ist die selbstgewählte normative Grundlage der Betreuungsrechtsreform.[159]

Wie alle Vertragsstaaten muss hiernach auch Deutschland

Menschen mit langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen[160] durch geeignete Maßnahmen in die Lage versetzen, ihre Rechts- und Handlungsfähigkeit auszuüben;[161]

die Unterstützungsmaßnahmen

mit geeigneten und wirksamen Sicherungen gegen ihren Missbrauch verbinden,
regelmäßiger behördlicher oder gerichtlicher Überprüfung unterwerfen,
auf die Umstände der unterstützten Person zuschneiden.[162]

Einschränkungen des Schutzadressatenkreises kennt die UN-BRK nicht: Ihre Standards müssen für ausnahmslos alle Menschen mit Behinderungen verwirklicht werden.[163]

Hiermit unvereinbar ist ein legislatorisches Konzept, das gesetzliche Betreuung durch "privatautonome Rechtsfürsorge" vermeiden soll,[164] ohne dabei vertraglich und gesetzlich betreuten Menschen denselben Missbrauchsschutz zu gewähren. Die konzeptionellen Rahmenbedingungen der Reform 2023 begünstigen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Wer eine staatlich ausdrücklich geförderte[165] Vorsorgevollmacht erteilt, bleibt anschließend unter dem Label "Privatautonomie" weitgehend sich selbst überlassen. Dagegen wird "möglichst effektiv gegen Missbrauch geschützt",[166] wer einfach nichts unternimmt.

Mit seiner Zustimmung gem. Art. 59 Abs. 2 GG[167] hat der Gesetzgeber seinen eindeutigen Willen erklärt, auch den Missbrauchsschutz der UN-BRK in Deutschland zu verwirklichen, und zwar uneingeschränkt für alle behinderten Menschen. Deshalb ist es sowohl mit Blick auf Art. 12 UN-BRK als auch unter dem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt der Einheit bzw. Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung[168] unzulässig, behinderte Vollmachtgeber von diesem Schutz auch nur teilweise auszuschließen.

[159] Vgl. BT-Drucks 19/24445, 3 passim.
[160] Art. 1 S. 2 UN-BRK.
[161] Art. 12 Abs. 3 UN-BRK.
[162] Art. 12 Abs. 4 UN-BRK.
[163] Vgl. Art. 1 S. 1 UN-BRK.
[164] BT-Drucks 19/24445, 244.
[165] Vgl. BT-Drucks 19/24445, 244.
[166] BT-Drucks 19/24445, 148.
[167] Vgl. BVerfGE 111, 307.
[168] Vgl. BVerfGE 98, 265, 298 m.w.N.

II. Grundgesetz

Zitat

"Die Reform der materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften des Betreuungsrechts ist auf das zentrale Ziel ausgerichtet, eine (…) konsequent an der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Betroffenen orientierte Anwendungspraxis zu gestalten."[169]

Während der Gesetzgeber mit diesem Ansatz den Art. 2 GG zum archimedischen Punkt seiner Neuregelung macht, ist er über Art. 3 Abs. 1 GG an das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz sowie über Art. 20 GG an das Rechtsstaatsprinzip gebunden. Die Materialien lassen nicht erkennen, dass diese verfassungsrechtlichen Bindungen bei der Konzeptionierung der Reform hinreichend berücksichtigt worden sind.

[169] BT-Drucks 19/24445, 2.

1. Privatautonomie – Art. 2 GG

Bei seiner Fokussierung auf die Privatautonomie verkennt der Reformgesetzgeber durchaus nicht, dass "die möglichst umfassende Gewährung von Selbstbestimmung immer auch mit einer Gefährdung vulnerabler Personen verbunden ist."[170] Jedoch hält er eine solche Gefährdung zur Rechtfertigung legislatorischer Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht grundsätzlich für nicht ausreichend.[171]

Drei Gesichtspunkte sprechen gegen die Richtigkeit dieser Auffassung und gegen die Tragfähigkeit des daraus abgeleiteten Konzepts:

Die "möglichst umfassende Gewährung von Selbstbestimmung"[172] auf der Grundlage des Art. 2 GG setzt "in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können."[173] Die sog. Grundrechtsmündigkeit, ursprünglich verstanden als die Fähigkeit eines Minderjährigen, gerichtliche Verfahrenshandlungen zum Schutz eigener Grundrechte vorzunehmen,[174] ist inzwischen gefestigter Bestandteil der Grundrechtsdogmatik.[175] In den Konstellationen 1–3[176] fehlt es den mental eingeschränkten Vollmachtgebern jedoch gerade hieran: an der Fähigkeit bzw. Möglichkeit, von ihrer Selbstbestimmung tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Deshalb ist es dem Gesetzgeber nicht erlaubt, sie unter Verweis auf Art. 2 GG sich selbst zu überlassen.
Die in den Konstellationen 1–3 vulnerablen Menschen sind in Bezug auf ihre Betroffenheit in exakt derselben Lage wie der durch § 1814 Abs. 1 BGB adressierte Personenkreis. Während diesem Personenkreis durch gerichtliche Aufsicht über den Betreuer und Haftungssicherheit umfassender Missbrauchsschutz gewährt wird,[177] bleiben die betroffenen Vollmachtgeber von derselben Begünstigung ausgeschlossen. Dabei kann auch das neue Institut der Kontrollbetreuung konzeptionelle Ungleichbehandlung der beiden Normadressatengruppen nicht ...

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