Einführung
Der Fall liegt wie folgt: Das Vermögen einer Vorerbin teilt sich in deren Eigenvermögen und zwei Vorerbschaftsvermögen auf. Die beiden Nacherbfälle werden durch den Tod der Vorerbin ausgelöst. Fraglich ist, ob § 6 Abs. 2 S. 2 ErbStG in einem solchen Fall die Möglichkeit eröffnet, mehrere Anträge auf Versteuerung nach dem jeweiligen Verhältnis des Nacherben zum jeweiligen Erblasser zu stellen. Das Finanzamt und das Finanzgericht sind der Auffassung, dass nur ein Antrag gestellt werden kann, mit der Konsequenz, dass das im Antrag bezeichnete Verhältnis des Nacherben zum Erblasser für alle Nacherbschaftsanfälle maßgeblich wird; dementsprechend ist der Freibetrag gem. § 16 ErbStG aus diesem Verhältnis zu bestimmen und nur einmal zu gewähren. Die Autoren dieses Beitrags sind dagegen der Auffassung, dass der Nacherbe mehrere Anträge nach § 6 Abs. 2 S. 2 ErbStG stellen kann, wodurch das jeweilige Verhältnis des Nacherben zum jeweiligen Erblasser der Besteuerung zugrunde gelegt werden muss und infolgedessen insbesondere auch in jedem dieser Verhältnisse der Freibetrag zu gewähren ist.
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Das Finanzgericht München hat sich am 20.11.2019 (Az. 4 K 519/18, Rev. eingelegt unter Az. II R 1/20) mit einem Fall befasst, der – soweit erkennbar – die Finanzrechtsprechung bisher noch nicht beschäftigt hat. Auch in der Literatur wurde das nachfolgend erläuterte Problem wohl noch nicht aufgegriffen.
I. Sachverhalt
Die Vorerbin, mit deren Tod zwei Nacherbfälle eintraten, ist Anfang 2015 verstorben. Ihr Nachlass teilt sich in drei voneinander zu trennende Vermögensmassen [a) – c)]: ihr Eigenvermögen und zwei Vorerbschaftsvermögen. Denn die Erblasserin war sowohl von ihrem Vater als auch von ihrer Mutter zur Vorerbin eingesetzt worden.
1. Drei voneinander zu trennende Vermögensmassen
a) Im Hinblick auf ihr Eigenvermögen wurde die Vorerbin aufgrund Testaments beerbt; zu je 1/5 von den drei Nacherben und zwei weiteren Miterben, welche die Vorerbin adoptiert hatte.
b) Im Hinblick auf das Vorerbschaftsvermögen nach der Mutter der Vorerbin richtet sich die Nacherbfolge nach einem Ehe- und Erbvertrag aus dem Jahre 1957. Dort ist geregelt, dass die Nacherbfolge eintritt, wenn die Vorerbin ohne Hinterlassung von eigenen leiblichen Abkömmlingen verstirbt. Das ist der Fall. Die Vorerbin hatte keine eigenen leiblichen Kinder. Zu Nacherben sind die gesetzlichen Erben der Vorerbin berufen, sofern diese gesetzlichen Erben auch leibliche Abkömmlinge der Eltern der Vorerbin sind. Vorliegend sind dies die Nichten bzw. der Neffe der Vorerbin, die zugleich auch die leiblichen Enkelkinder der Eltern der Vorerbin sind.
c) Im Hinblick auf das Vorerbschaftsvermögen nach dem Vater der Vorerbin gilt das vorstehend zu b) Ausgeführte analog.
2. Bisheriger Verfahrensverlauf
Der Testamentsvollstrecker stellte für jeden einzelnen Nacherben zwei Anträge nach § 6 Abs. 2 S. 2 ErbStG im Rahmen eines Begleitschreibens zur Erbschaftsteuererklärung, nämlich jeweils für die großmütterliche Nacherbschaft und die großväterliche Nacherbschaft. Unter Negierung der Tatsache, dass im vorliegenden Fall für jeden großmütterlichen und großväterlichen Nacherbfall Anträge nach § 6 Abs. 2 S. 2 ErbStG auf Besteuerung im Verhältnis zur Großmutter und zum Großvater zulässig sind, erließ das Finanzamt jeweils Erbschaftsteuerbescheide gegen die Nacherben. Gegen diese Erbschaftsteuerbescheide wurden Einsprüche eingelegt und dieselben umfangreich begründet. Das Finanzamt blieb im Rahmen des Einspruchs- und des sich anschließenden Finanzgerichtsverfahrens bei seiner Auffassung, die das Finanzgericht mit Urt. v. 20.11.2019 bestätigte, aber die Revision aus Gründen der Rechtsfortbildung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zuließ, welche im Januar 2020 eingelegt wurde.
II. Rechtliche Ausführungen
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass im geschilderten Fall mehrere Anträge nach § 6 Abs. 2 S. 2 ErbStG zulässig sind und dementsprechend für jeden Nacherbschaftsanfall das jeweilige Verhältnis des Nacherben zum Erblasser unter Berücksichtigung der Regeln in § 6 Abs. 2 S. 3 – 5 ErbStG für die Besteuerung maßgeblich ist.
1. Der Inhalt der Steuerfiktion gem. § 6 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 und 2 ErbStG
a) Allgemeines
Festzuhalten ist zunächst, dass das Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht eng mit dem Zivilrecht verwoben ist. Zivilrechtliche termini und Deutungen sind vor allem für die Steuertatbestände von Bedeutung, die in ihrem Wortlaut explizit auf zivilrechtliche Normen verweisen, vgl. nur die hier streitgegenständlichen Erwerbe durch Erbanfall gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 ErbStG oder aber Schenkungen auf den Todesfall gem. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG. Als Konsequenz hieraus "folgt zwingend, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der dort angeführten Erwerbs- und Zuwendungsvorgänge dem Erbrecht zu entnehmen sind, das auf diese Weise die Person des Erwerbers, den Erwerbsgegenstand und Art und Umfang des Erwerbs bestimmt".
§ 6 ErbStG stellt hiervon eine Ausnahme i.S. einer lex specialis dar. Als Ausnahme von der Regel, wonach bei Erwerben von Todes wegen gemäß den zuvor dargestellten Grundsätzen die Wertungen des Zivilrechts entscheidend sind, ist daher § 6 ErbStG zwingend eng und restriktiv zu verstehen und auszulegen. Eine vom Zivil...