Leitsatz
1. Die Frist zur Erbausschlagung beginnt gem. § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB erst mit der Kenntnis über den Anfall der Erbschaft und den Grund der Berufung. Bei mehreren sich widersprechenden, gewillkürten Erbfolgeregelungen stellt jede für sich einen Berufungsgrund dar, über den jeweils für sich genommen falsche Vorstellungen den Beginn der Ausschlagungsfrist hindern können.
2. Ein die Kenntnis ausschließender Rechtsirrtum kann auch dann vorliegen, wenn dem Erben die richtige Einschätzung der Rechtslage als mögliche Betrachtungsweise zwar bekannt ist, er selbst aber die Rechtslage anders beurteilt oder sie jedenfalls für zweifelhaft hält.
3. Eine Markierung von Nachlassgegenständen ist ein mehrdeutiger Verhaltensakt, sodass es für den Rückschluss auf einen konkludenten Annahmewillen auf die Umstände des Einzelfalls ankommt.
4. § 1948 Abs. 2 BGB schließt die Beachtlichkeit eines den Beginn der Ausschlagungsfrist hemmenden Rechtsirrtums i.S.d. § 1944 Abs. 2 S. 1 BGB nicht aus.
5. Setzt die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruchs die Ausschlagung voraus, beginnt die Verjährung grundsätzlich nicht erst mit der Ausschlagung, sondern mit dem Erbfall. Die entsprechende Hemmung des Beginns der Verjährungsfrist ist jedoch in Fällen, in denen sich der Pflichtteilsanspruch erst aus einer nach der Ausräumung eines beachtlichen Irrtums über den Berufungsgrund erfolgten Ausschlagung ergibt, anerkannt.
LG Wuppertal, Urt. v. 6.1.2023 – 2 O 298/19
1 Tatbestand
Die Klägerin macht gegenüber den Beklagten 1) bis 3) Pflichtteilsansprüche nach Erbausschlagung geltend und gegenüber dem Beklagten 4) als Testamentsvollstrecker einen Anspruch auf Duldung der Zwangsvollstreckung in den Nachlass. Die Klägerin, die zugleich Adoptivtochter der Erblasserin ist, und die Beklagten zu 1) und 2) sind die leiblichen Nichten der Erblasserin, der Beklagte zu 3) ist ein entfernter Verwandter. Die Erblasserin war in zwei Ehen verheiratet, die beide kinderlos blieben.
Mit ihrem ersten, am 24.3.1971 verstorbenen Ehemann, C, setzte die Erblasserin am 27.1.1967 einen notariellen Erbvertrag auf, in dessen Nr. II sich die Eheleute gegenseitig zu Alleinerben einsetzten (Bl. 7–10). Zu Erben des Längerlebenden setzten die Eheleute unter Nr. III die Klägerin und die Beklagten zu 1) bis 3) zu je ¼ ein. In Nr. V vereinbarten die Eheleute, dass der Längerlebende zwei Vermächtnisse anordnet, nämlich dass ihre Eigentumswohnung auf der T-Straße in E G und ihre Eigentumswohnung im F in E C erhält. In Nr. VI vereinbarten die Eheleute, dass der Längerlebende Testamentsvollstreckung zum Zwecke der Vollziehung der Vermächtnisse und der Verwaltung des Grundbesitzes in V auf der Q-Straße X und Xa durch den jetzigen Beklagten zu 3) anordnet. Unter Nr. VII des Erbvertrags schlossen die Eheleute den Vorbehalt eines einseitigen Rücktritts von dem Erbvertrag aus. Gleichzeitig verfügten sie, dass der Längerlebende das Recht behalten soll, unter Widerruf seiner Bestimmungen nach dem Tod des Erstversterbenden anderweitig von Todes wegen zu verfügen, ohne dass dadurch die Verfügungen des Erstversterbenden berührt werden sollen.
Durch notarielles Testament (Urk.-Rolle … des Notars Dr. B in V.) vom 26.4.2005 widerrief die Erblasserin alle früheren Verfügungen von Todes wegen und setzte zu ihrem alleinigen Erben ihren zweiten Ehemann, den am 5.1.2009 verstorbenen Prof. Dr. L2, ein und vermachte der Klägerin den Grundbesitz auf der Q-Straße in V (Bl. 15).
Am 24.2.2009 errichtete die Erblasserin ein weiteres notarielles Testament (Urk.-Rolle … des Notars Dr. B in V.), in dem sie unter Nr. 1 alle früheren Verfügungen von Todes wegen widerrief und in dem sie unter Nr. 2 die Klägerin als Alleinerbin einsetzte sowie unter Nr. 3 zahlreiche Vermächtnisse im Umfang von 81 % des nach Abzug aller Nachlassverbindlichkeiten und Nachlasskosten verbleibenden Netto-Nachlasswerts nach Abzug des Grundbesitzes in V, Q-Straße, sowie der persönlichen Gegenstände und Wohnungseinrichtung an weitere Personen verfügte, u.a. in Höhe von 15 % an ihren Bruder T, den Vater der Klägerin (Bl. 275–278).
Durch Beschluss des AG Wuppertal vom 14.1.2010 nahm die Erblasserin die Klägerin als Kind an (57 XVI 4/09). Am 3.1.2015 verstarb die Erblasserin. Am 1.3.2015 nahm der damalige Testamentsvollstrecker, S., ein Nachlassverzeichnis auf, das er unter Berücksichtigung der Veräußerung der beweglichen Habe und des Einfamilienhauses X-Straße und X am 16.6.2015 für 680.000,00 EUR sowie der avisierten Veräußerung der Immobilie Q-Straße für 1.100.000,00 EUR am 15.11.2016 unter dem 12.1.2016 um eine vorläufige Aufstellung der Nachlassmasse ergänzte. Aus dem Verzeichnis ergeben sich vorläufige Aktiva i.H.v. insgesamt 1.808.677,43 EUR und vorläufige Passiva i.H.v. insgesamt 96.460,72 EUR, wobei Steuerlasten als noch nicht festgestellt und berücksichtigt ausgewiesen sind.
Am 16.6.2016 verstarb der Vater der Klägerin, deren Alleinerbe sie ist.
Den Antrag der Klägerin auf Erteilung eines Erbscheins, der sie als Alleinerbin der Erblasserin ausweist, wies das AG ...