Leitsatz
1. Hat eine Erblasserin Wertpapiere im Wert von 780.000 EUR sechs Vermächtnisnehmern zur leichteren Abwicklung in der Form vermacht, dass der eingesetzte Alleinerbe die Papiere verkaufen und den Erlös an die Vermächtnisnehmer auskehren soll, ist auch hierauf die Auslegungsregel des § 2173 BGB anwendbar.
2. Weist das Wertpapierdepot im Todeszeitpunkt nur noch einen Wert von 101.000 EUR auf, weil – nach Testamentserrichtung erfolgte – Rückzahlungen aus Anleihen auf einem Festgeldkonto angelegt worden sind, muss der Erbe mithin beweisen, dass die Erblasserin nicht den Willen hatte, die Vermächtnisnehmer jedenfalls auch mit dem Sparvermögen zu bedenken, welches das Surrogat der Anleihen bildete.
OLG Frankfurt am Main, Urt. v. 5.4.2022 – 10 U 200/20
1 Gründe
I.
Die Klägerinnen verlangen von den Beklagten als Erbinnen nach der am XX.XX.2019 verstorbenen X (Erblasserin) Erfüllung eines Vermächtnisses.
Am 28.9.2010 errichtete die damals 90-jährige Erblasserin vor dem Zeugen Y ein notarielles Testament, dessen Inhalt auszugsweise lautet:
Zitat
1.
Ich setze zu meinem alleinigen Erben ein Herrn Vorname1 Nachname1 …
…
Zu meinem Nachlass gehört insbesondere auch mein Grundbesitz … in der Straße1, Stadt1, … .
2.
Ich ordne folgende von meinem Erben zu erfüllende Vermächtnisse an:
Meine Wertpapiere in Höhe von derzeit 780.000,00 EUR bei der Bank1 sollen verkauft werden. Den Erlös vermache ich folgenden Personen zu je 1/6 Anteil:
- Frau Vorname2 Nachname2, …
- Frau Vorname3 Nachname1, …
- Frau Vorname4 Nachname1, …
- Frau Vorname5 Nachname1, …
- Herrn Vorname6 Nachname3, Straße2, …
Der verbleibende 1/6 Anteil fällt meinem Erben Vorname1 Nachname1 zu.
…
Bei dem im Testament bedachten Vermächtnisnehmer Nachname3 handelt es sich um einen Vertrauten der Erblasserin, der sich als deren Generalbevollmächtigter u.a. um die Anlage ihres Vermögens kümmerte. Er legte das Geld aus den im Zeitpunkt der Testamentserrichtung im Depot befindlichen, nach dem Ende der Laufzeit zurückgezahlten Anleihen nicht wieder in Anleihen oder anderen Wertpapiere an, da aus seiner Sicht entsprechende Renditen nur mit großem Risiko zu erzielen gewesen seien. Die Rückzahlungen wurden deshalb auf einem Festgeld-Sparkonto angelegt.
Im Todeszeitpunkt wies das Wertpapierdepot einen Wert von 101.569,00 EUR auf. Die Beklagten zahlten an die Klägerinnen jeweils 1/6 dieses Betrags, mithin 16.928,17 EUR, aus. Eine Finanzübersicht zum 13.3.2019 (Bl. 94 d.A.) weist als Bankvermögen (bestehend aus Kontokorrent, Spareinlagen, Termineinlagen, Geschäftsanteilen und Depot) einen Gesamtbetrag von 739.450,14 EUR aus. Davon betrugen die Spareinlagen 611.735,45 EUR.
Die Klägerinnen haben behauptet, die Erblasserin sei von zwei Vermögensmassen ausgegangen, nämlich Immobilienvermögen und Wertpapiervermögen. Sie habe mehrfach geäußert, der Erbe Vorname1 Nachname1 solle das Haus bekommen und der andere Teil ihres Vermögens, der seinerzeit ausschließlich in Wertpapieren angelegt gewesen sei, solle zwischen den Vermächtnisnehmern gleichmäßig geteilt werden. Die Spareinlagen seien mit den Wertpapieren im Sinne der testamentarischen Verfügung gleichzusetzen.
Die Beklagten haben gemeint, das Vermächtnis beziehe sich ausschließlich auf die Wertpapiere, die im Todeszeitpunkt im Depot vorhanden gewesen seien.
Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung haben die Klägerinnen mit ihren Klagen Zahlung von jeweils weiteren 113.071,82 EUR verlangt (780.000,00 EUR: 6./.16.928,18). Nach zwischenzeitlicher Reduzierung dieser Summe (s. Bl. 91 d.A.) hat die Klägerin zu 1 im Termin vor dem LG beantragt, die Beklagten zur Zahlung von 114.650,17 EUR nebst Zinsen zu verurteilen. Die Klägerin zu 2 hat nach Teilklagerücknahme Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 106.536,30 EUR (entspricht 1/6 des gesamten Bankvermögens abzüglich der erhaltenen Zahlung) beantragt.
Das LG hat die Klagen abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Vermächtnisansprüche der Klägerinnen seien durch die Zahlungen von jeweils 16.928,27 EUR erfüllt. Wortlaut und Systematik des Testaments, das eine konkrete Anweisung an die Erben enthalte, seien eindeutig. Das Testament nehme gerade nicht Bezug auf das gesamte Bankvermögen, sondern nur auf die Wertpapiere. Die Wertangabe von derzeit 780.000,00 EUR betone zudem, dass der Depotwert naturgemäß Schwankungen unterliege, zumal bei befristeten Anleihen Änderungen bei Rückzahlung am Laufzeitende klar gewesen seien. Ein anderweitiger Wille wäre nach der Andeutungstheorie nicht formgültig erklärt. Wegen der tatsächlichen Feststellungen und der Begründung im Übrigen wird auf das erstinstanzliche Urteil Bezug genommen.
Gegen das Urteil wenden sich die Klägerinnen mit ihrer Berufung, mit der sie ihre erstinstanzlichen Anträge nur noch i.H.v. jeweils 101.955,90 EUR (jeweils 1/6 der Spareinlagen) nebst Zinsen weiterverfolgen. Sie rügen: Rechtsfehlerhaft vertrete das LG die Auffassung, das Testament habe einen eindeutigen Wortlaut. Das Wort "derzeit" bei der Angabe des seinerzeitigen Depotwerts sei angesichts der –...