Warum streben wir eine Digitalisierung des Zivilprozesses überhaupt an? Welche Vorteile versprechen wir uns von Videoverhandlungen? In der Begründung des Entwurfs werden Videoverhandlungen als potenziell "schneller, kostengünstiger, ressourcenschonender und nachhaltiger" dargestellt. Zeitersparnis am konkreten Tag und damit einhergehend eine Kostenersparnis für die Mandantinnen und Mandanten sind’sicherlich Faktoren. Gleichzeitig verbinde auch ich mit Videoverhandlungen die Hoffnung auf eine kürzere Verfahrensdauer.
Diese Hoffnung ist – jedenfalls zum aktuellen Zeitpunkt – allerdings nur bedingt berechtigt. Zu erwarten ist, dass es bei stärkerer Nutzung der Videokonferenztechnik zu weniger Verlegungsanträgen kommen wird, weil An- und Abreisezeiten entfallen und eine Verhandlung besser zwischen bereits feststehende Termine passt. Aktuell und auch nach der geplanten Reform bleibt aber die Ressource "Sitzungssaal" ein limitierender Faktor, weil die Parteien es in der Hand haben, doch physisch zu erscheinen. Das ist für "Videoverhandlungen" bemerkenswert und könnte ein Argument für eine (verbindliche) Anordnung (ohne Opt-out) darstellen.
Die Ressource "Richterinnen und Richter" ist ein weiterer limitierender Faktor. Jede und jeder kann realistischerweise nur eine bestimmte Anzahl von Fällen bearbeiten, was technischen und organisatorischen Möglichkeiten, schneller zu terminieren, Grenzen setzt.
Wie lange soll, wie lange darf ein Verfahren also dauern? Welche unterschiedlichen Verfahrensarten will unsere Rechtsordnung anbieten? Diese Fragen stehen in einem Zusammenhang. Die Befürchtung, dass das Ansehen des Gerichts sinken könnte, wenn in einem unpersönlichen Videoformat verhandelt wird, die mündliche Verhandlung mal schnell zwischen Zumba und Online-Shopping stattfinden könnte, ist nicht einfach von der Hand zu weisen. Gleichzeitig dürfte sicher davon auszugehen sein, dass das Ansehen der und das Vertrauen in die Justiz massiv leidet, wenn sie nicht in der Lage ist, Verfahren in einem für die Bürgerinnen und Bürger angemessenen Zeitrahmen abzuschließen. Bürgerinnen und Bürger werden dann nach Alternativen suchen. Sinkende Eingangszahlen individueller Zivilverfahren bei den Gerichten und der Erfolg von Legal-Tech-Unternehmen wie Flightright sind Anfänge dieser Entwicklung. Viele Rechtssuchende erhalten lieber einen gewissen Betrag sofort als das "richtige Ergebnis" später, ggf. erst nach Jahren und mit großem emotionalen und zeitlichen Aufwand. Wollen wir die Justiz und den Zivilprozess erhalten, müssen gerichtliche Verfahren generell schneller werden. Die Digitalisierung könnte hier umfassende Möglichkeiten bieten. Die Grundstimmung ist daher positiv. Gesetzgeber und Verwaltung mögen bitte aber auch die tatsächlichen Voraussetzungen für die Nutzung dieser Möglichkeiten schaffen.