Im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben lässt sich lediglich das Gebot einer Mindestbeteiligung am Nachlass ableiten. Von Verfassung wegen besteht demnach keine bestimmte wertmäßig-konkrete Untergrenze, die bei der Bemessung des Pflichtteils eingehalten werden muss.

Die oben skizzierte Rechtsprechung des BGH zu § 2330 BGB scheint mit dieser verfassungsrechtlichen Pflichtteilsgarantie zunächst nur schwer vereinbar. Vollkommen fremd ist der Gedanke der fehlenden Nachlassbeteiligung dem deutschen Recht freilich nicht. Dies zeigen schon die gesetzlich normierten Pflichtteilsentziehungstatbestände aus § 2333 BGB. Durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet § 2333 BGB allerdings nicht. So hat das BVerfG zu den Pflichtteilsentziehungsgründen festgestellt, dass es dem Erblasser bei einem besonders schwerwiegenden Fehlverhalten des Kindes schlechthin unzumutbar sei, die Nachlassteilhabe des Kindes hinzunehmen.[41] Nach Ansicht des Gerichts sind also auch solche Fälle denkbar, in denen die Interessen des Pflichtteilberechtigen mit denen anderer Beteiligter abgewogen werden und ausnahmsweise aufgrund der Umstände des Einzelfalls vollständig zurückzutreten haben. Die verfassungsrechtliche Mindestbeteiligung steht daher in einer Wechselbeziehung zu anderen erbrechtlichen Beteiligungs- und Ausgleichsinstituten, die der Gesetzgeber ausgestaltet und der Rechtsprechung zur näheren Konkretisierung überlassen hat.

In diesem Sinne könnte auch die oben skizzierte Rechtsprechung des BGH zu § 2330 BGB interpretiert werden, wenn er bei Pflichtschenkungen eine Nachlassaufzehrung zulässt. Nicht umsonst wird in den einschlägigen Gerichtsentscheidungen eine Abwägung zwischen den Belangen von Schenker und Beschenktem und den Interessen des Pflichtteilsberechtigten gefordert.[42] In der Entscheidung des BGH aus dem Jahr 1984[43] wurde insoweit der Pflichtschenkung Vorrang vor dem Pflichtteil eingeräumt.

Ob der BGH auch heute noch zum selben Abwägungsergebnis kommen würde, darf indes bezweifelt werden. So wird zum einen in der Kommentarliteratur zu bedenken gegeben, dass sich seit der BGH-Rechtsprechung aus den Achtzigerjahren die sozialen Verhältnisse hinsichtlich Unterhalt und Alterssicherung verändert hätten. Dieser Umstand lege eine Abschwächung der sittlichen Dankesschuld beim Schenker bzw. Erblasser nahe.[44] Zum anderen war aus der Perspektive der älteren BGH-Rechtsprechung auch die bundesverfassungsgerichtliche Grundentscheidung zur Pflichtteilsgarantie nicht absehbar. Tatsächlich dürfte von der Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2005 aber eine Zäsurwirkung ausgegangen sein, an der sich die Rechtspraxis seitdem orientiert.[45] Nicht umsonst ging der BGH in seinem Urteil zum ordre public aus dem Jahr 2022 ausführlich auf das als "Grundsatzentscheidung" bezeichnete Judikat des BVerfG und dessen Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung ein.[46]

Zu Recht wurde in der Literatur das Urteil aus dem Jahre 2022 deshalb so verstanden, dass die vor der bundesverfassungsrechtlichen Grundsatzentscheidung ergangenen Gerichtsentscheidungen, die das Fehlen eines Pflichtteils im ausländischen Recht ihrerzeit nicht beanstandet haben, mittlerweile überholt seien.[47] Ein entsprechender Paradigmenwechsel bei der Interpretation des § 2330 BGB zugunsten des Pflichtteilsberechtigten scheint durch die seit 2005 ergangene obergerichtliche Rechtsprechung bestätigt. Soweit ersichtlich[48] lässt sich seit der Grundsatzentscheidung des BVerfG keine obergerichtliche Entscheidung finden, in der eine Pflichtteilschenkung den Nachlasswert im Wesentlichen erschöpft hätte.

Aus diesem Blickwinkel lässt sich auch die bisherige – überwiegende – obergerichtliche Rechtsprechung zu § 2057a Abs. 1 S. 2, Abs. 3 BGB interpretieren: Dem Pflichtteilsberechtigten steht eine Mindestbeteiligung am Nachlass zu. Diese kann nicht vollständig durch den Ausgleichungstatbestand aus § 2057a Abs. 1 S. 2, Abs. 3 BGB überlagert werden. Vielmehr müssen die Interessen des Ausgleichungsberechtigten mit denen des Pflichtteilsberechtigten in Ausgleich gebracht werden, wobei die eine Interessenssphäre die andere nicht vollständig überlagern darf. Implizit klingt dieser’Gedanke zum einen dort an, wo die Rechtsprechung auf den’Wortlaut des § 2057a Abs. 3 BGB rekurriert ("Wert des Nachlasses", "Billigkeit"), also die Ausgleichung in einer Wechselwirkung zum Nachlasswert stehe.[49] Zudem werden die Interessen der Pflichtteilsberechtigten bei der Ausgleichungsbemessung im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten "Gesamtschau" explizit berücksichtigt.[50]

[41] BVerfG NJW 2005, 1561, 1564 f.
[42] Vgl. nur BGH NJW 1984, 2939, 2940.
[43] BGH NJW 1984, 2939.
[44] Vgl. MüKo-BGB/Lange, § 2330 BGB Rn 7; BeckOK-BGB/Müller-Engels, § 2330 BGB Rn 3; Staudinger/Herzog, § 2330 BGB Rn 32.
[45] Vgl. zur Zäsurwirkung: MüKo-BGB/Lange, § 2330 BGB Rn 4.
[46] BGH ZErb 2022, 471, 474 ff.
[47] Litzenburger, FD-ErbR 2022, 450960.
[48] Ohne Entscheidungserheblichkeit lediglich: OLG Braunschweig BeckRS 2...

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