Die angeführte Rechtsprechung des BVerfG und BGH lässt darauf schließen, dass die Gerichte das Pflichtteilsrecht und die Testierfreiheit bzw. die Verfügungsbefugnis des Erblassers durch Abwägung in Ausgleich bringen. Das BVerfG nennt in seiner Entscheidung zum Pflichtteilsrecht in Fällen der gewillkürten Erbfolge[51] folgende Abwägungsgüter: Auf der einen Seite steht die verfassungsrechtlich geschützte Testierfreiheit, auf der anderen das Interesse des Pflichtteilsberechtigten. Da es sich bei beiden Interessen um solche mit Verfassungsrang handelt, ist der Konflikt letztlich im Wege der praktischen Konkordanz auflösbar. Dieser Grundsatz fordert nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG, "daß [sic] nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren".[52] Ausnahmefälle bilden dabei allein die vom BVerfG gebilligten Fälle der §§ 2333, 2345 Abs. 2, 2339 BGB, in denen eine Nachlassteilhabe wegen schwerwiegenden Fehlverhaltens des Kindes schlechthin unzumutbar erscheint.[53]

Für die hiesige Konstellation lässt sich daraus Folgendes schlussfolgern: Möchte man dem verfassungsrechtlich geschützten Pflichtteilsrecht gerecht werden, gleichzeitig aber auch die’legitimen Interessen des Ausgleichungsberechtigten i.S.d. § 2057a BGB bzw. des Erblassers wahren, muss die Abwägung im Wege der praktischen Konkordanz erfolgen, soweit beide Interessen von Verfassung wegen geschützt sind. Dies ist der Fall: Die Interessen des Pflichtteilsberechtigten finden, wie gesehen, in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Niederschlag (familiärer Solidaritätsgedanke[54]).

Schwieriger verfassungsrechtlich zu erfassen ist das Interesse des Ausgleichungsberechtigten nach § 2057a Abs. 1 S. 2 BGB. Zum einen dienen die Ausgleichungstatbestände der §§ 2050’ff. BGB dazu, dem mutmaßlichen Erblasserwillen zur Geltung zu verhelfen.[55] Sie beruhen auf der widerlegbaren Vermutung, dass der Erblasser seine Abkömmlinge gleich behandeln möchte und jedes Kind den Anteil erhält, der ihm abzüglich von Vorempfängen und zuzüglich von erbrachten Leistungen gebührt.[56] Denkbar wäre also in den Fällen des § 2057a Abs. 1 S. 2 BGB, auch die Testierfreiheit in Form des mutmaßlichen Erblasserwillens mit in die Abwägung einzubeziehen. Zum anderen wird in der jüngeren Vergangenheit dem Ausgleichungstatbestand des § 2057a Abs. 1 S. 2 BGB von Rechtsprechung und Literatur aber auch zunehmend eine sozialpolitische Funktion zugeschrieben. Der Gesetzgeber habe mit § 2057a Abs. 1 S. 2 BGB dazu beitragen wollen, häusliche Pflegeleistungen der Angehörigen zu fördern und zu honorieren und auf diese Weise eine Heimunterbringung des pflegebedürftigen Erblassers möglichst lange zu verhindern.[57] Diesen Förderungsgedanken verfolgen, zur Entlastung der Sozialversicherungssysteme, auch die Leistungstatbestände der sozialen Pflegeversicherung, die finanzielle Anreize zur Übernahme von familiärer Pflegeverantwortung bieten, vgl. § 3 SGB XI.[58] Aufgrund dieses Honorierungs- und Entlastungsgedankens lässt sich § 2057a Abs. 1 S. 2 BGB durchaus auch als einfachgesetzliche Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips[59] aus Art. 20 Abs. 1 GG interpretieren. Dieses Verfassungsgut wäre bei der Ausgleichungsbemessung neben dem mutmaßlichen Erblasserwillen zugunsten des Ausgleichungsberechtigten in die Waagschale zu werfen.[60]

Aufgrund des Grundsatzes der praktischen Konkordanz müssen die genannten gegenläufigen Interessen des Ausgleichungs- und Pflichtteilsberechtigten jeweils möglichst umfassend durch eine schonende Abwägung verwirklicht werden. Dies entspricht im Übrigen auch der einfachgesetzlichen Anordnung aus § 2057a Abs. 3 BGB, der eine Billigkeitsabwägung fordert. Dem OLG Schleswig und dem OLG Frankfurt a.M. ist daher zuzustimmen, wenn diese eine Nachlassaufzehrung durch die Ausgleichung ablehnen.[61] Dieses Ergebnis lässt sich allerdings nicht nur mit dem Wortlaut des § 2057a Abs. 3 BGB begründen. Darüber hinaus ergibt sich aus der dargestellten verfassungsrechtlichen Güterabwägung, dass die gegenläufigen Interessen des Ausgleichungs- und Pflichtteilsberechtigten Verfassungsrang genießen und kein Verfassungsgut per se überwiegt.

Wie bereits anhand der §§ 2333, 2345 Abs. 2, 2339 BGB illustriert, wäre ein vollständiges Überwiegen eines der Abwägungsgüter nur im absoluten Ausnahmefall gerechtfertigt. Ein solcher Ausnahmefall ist beim Ausgleichungstatbestand für Pflegeleistungen nur schwer denkbar. Selbst wenn der zur Ausgleichung verpflichtete Pflichtteilsberechtigte sich nicht um die Pflege des Erblassers verdient gemacht hat, stellt dies für sich gesehen noch kein schwerwiegendes Fehlverhalten gegenüber dem Erblasser dar. Insbesondere muss sich der ausgleichungsverpflichtete Pflichtteilsberechtigte nicht vorwerfen lassen, seine Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Erblasser i.S.d. § 2333 Abs. 1 Nr. 3 BGB böswillig verletzt zu haben. Der vom Entziehungsgrund erfasste Unterhalt ist allein al...

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