Prof. Dr. Dr. Thomas Gergen
Die andere Ansicht sprach sich gegen eine strikte Anwendung des Gleichberechtigungssatzes aus. Die Beurteilung eines Sachverhalts bei Art. 3 Abs. 2, 3 GG solle demnach unter Berücksichtigung von Unterschieden zwischen den Geschlechtern erfolgen dürfen, weil "Einschränkungen, die der Natur der Sache entsprechen, unmöglich gegen die Gleichheitsforderung verstoßen" könnten. Neben den biologischen Unterschieden sollen physische, psychische, soziologische Unterschiede und funktionale Unterschiede vor allem in der Arbeitsteilung der Geschlechter berücksichtigt werden und somit eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter im Recht erlauben. Eine Differenzierung nach diesen Unterschieden rechtfertige allerdings selbst noch keine Ungleichbehandlung.
Es komme zum einen auf den Grad der Unterschiede und ihre Bedeutung für das konkrete zu regelnde Lebensverhältnis an. Zum anderen werden weitere Kriterien für eine Beurteilung der dem jeweiligen Sachverhalt zugrunde liegenden Unterschiede herangezogen: so vor allem, ob die Unterschiede eine wesentliche Rolle spielen oder die Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses sowie der sachliche Zusammenhang. Einzug hielten neben natürlichen auch historisch-gesellschaftliche Betrachtungen. Eine Benachteiligung oder Bevorzugung des jeweiligen Geschlechts erfolge somit nicht aufgrund des Geschlechts, sondern wegen Unterschiedlichkeiten in den Lebensverhältnissen oder wegen tatsächlicher Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern.
Diese Auslegung von Art. 3 Abs. 2, 3 GG bestimmte grundlegend die damalige Rechtsprechung und das Schrifttum. Auf der Grundlage funktionaler Unterschiede der Geschlechter waren Differenzierungen erlaubt, die "das zu regelnde Lebensverhältnis so entscheidend prägen, dass gemeinsame Elemente überhaupt nicht zu erkennen sind oder zumindest vollkommen zurücktreten." Daher seien im Hinblick auf die biologischen oder funktionalen Unterschiede der beiden Geschlechter "nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses" auch besondere Regelungen erlaubt oder "sogar notwendig".
Bundesverfassungsgericht und BGH führten in ihren Entscheidungen aus, dass die objektiven biologischen oder funktionalen Unterschiede der beiden Geschlechter, insbesondere "die in der Natur der Sache des jeweiligen Lebensverhältnisses" begründeten Unterschiede in der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, nicht nur eine unterschiedliche Regelung ihrer Rechtslage erlauben, sondern unter Umständen "sogar erforderlich" machen. In diese Richtung marschierte auch das Bundesarbeitsgericht, das wegen seines Rekurses auf die Natur der Lebensverhältnisse bzw. die Natur der Sache mit seiner Entscheidung vom 14.7.1955 Maßstäbe auch für etliche andere Entscheidungen setzte: Es führte aus, dass der Geschlechterunterschied dann zu einer differenzierten Behandlung von Mann und Frau auf dem Gebiet des Rechts führen könne und müsse, wenn Tatbestände vorlägen, die nur in einem Geschlecht verwirklicht werden könnten. Dabei gestatteten aber nicht nur bestimmte biologische Unterschiede der Geschlechter eine unterschiedliche Beurteilung der Rechtslage, sondern es könnten auch soziologische und funktionale, insbesondere allgemein anerkannte Unterschiede in der Arbeitsteilung der Geschlechter nach "der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses" eine differenzierte rechtliche Beurteilung rechtfertigen oder sogar notwendig machen. Zulässig sei deshalb eine rechtlich ungleiche Behandlung von Mann und Frau, wenn es sich um Lebensumstände handelt, die sich bei Frauen wesentlich von denen bei Männern unterschieden und demnach nur für Frauen oder nur für Männer geradezu typisch seien.