Der für das Erbrecht zuständige IV. Zivilsenat des BGH hat nunmehr zu maßgeblichen Punkten des notariellen Nachlassverzeichnisses Stellung nehmen können. Die Entscheidung führt zur weiteren Klarheit bei der Erstellung notarieller Nachlassverzeichnisse.
Der BGH unterstreicht die umfassenden Ermittlungspflichten des Notars, ohne insoweit jedoch auf die verfassungsrechtliche Dimension des Pflichtteilsrechts abzustellen. Der Notar ist, nach der zutreffenden Auffassung des BGH, zu denjenigen Nachforschungen verpflichtet, die ein objektiver Dritter in der Lage des Gläubigers für erforderlich halten durfte. Er ist im Rahmen der Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens dazu verpflichtet, selbst und eigenständig den tatsächlichen und fiktiven Nachlassbestand zu ermitteln (OLG Jena, NotBZ 2016; OLG Koblenz, NJW 2014, 1972, 186; OLG Köln, RNotZ, 2013, 127; OLG Saarbrücken, ZEV 2011, 373; OLG Saarbrücken, ZEV 2010, 416; LG Aurich, NJW-RR 2005, 1464).
Der Notar entscheidet unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach pflichtgemäßem Ermessen, welche konkreten Ermittlungen er bei der Errichtung eines notariellen Nachlassverzeichnisses veranlasst. Er muss das ihm zukommende Ermessen erkennen und diese selbst ausüben. Art und Umfang der Ermittlungen sollte der Notar im Nachlassverzeichnis dokumentieren (OLG Hamm, ZEV 2020, 295; Schönenberg-Wessel, Nachlassverzeichnis-HdB, § 26 m.w.N.). Der Notar hat im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens zu berücksichtigen, dass das sowohl BVerfG (BVerfG, NJW 2016, 2943) als auch der BGH (BGH, NJW 2019, 231) und die Instanzgerichte die Einsichtnahme in die vollständigen Kontoauszüge des Erblassers als naheliegenden Ermittlungsansatz angesehen haben (OLG Koblenz, MittBayNot 2018, 573 m. Anm. Schönenberg-Wessel; OLG Bamberg, ZEV 2016, 580; OLG Jena, NotBZ 2016, 186; LG Berlin, ErbR 2019, 449 (450). Der Erbe hat seinen Auskunftsanspruch gegen die Banken, zu denen der Erblasser Geschäftsbeziehungen unterhalten hat, umfassend geltend und diese Unterlagen dem Notar zugänglich zu machen. Der Auskunftsanspruch des Erben erlischt nicht mit Ablauf der handelsrechtlichen Aufbewahrungsfristen, wenn die zur Auskunftserteilung benötigten Unterlagen über den Fristablauf hinaus von den Banken aufbewahrt wurden (BGH, NJW 2001, 1486). Die Erteilung der Auskunft ist auch nicht wegen der mit der Suche der Unterlagen verbundenen Arbeit unzumutbar. Dies gilt selbst dann, wenn sich die Unterlagen nicht an einem Ort, sondern in verschiedenen Niederlassungen und Filialen im ganzen Bundesgebiet befinden (BGH, NJW 2001, 1486).
Unabhängig vom konkreten Fall bestätigt der BGH den Anspruch des Pflichtteilsberechtigten auf Ergänzung des notariellen Nachlassverzeichnisses auch für den Fall, dass sich ein Notar auf die bloße Wiedergabe der Angaben des Erben beschränkt, ohne umfassend eigene Ermittlung durchzuführen. Der Senat nimmt auch insoweit ausdrücklich Bezug auf die Entscheidung des OLG Koblenz (ZEV 2018,413) sowie die h.M. in der Literatur. Der Notar hat danach die ihm vom Erben zur Verfügung gestellten Unterlagen und dessen Angaben zu überprüfen und auf mögliche Ermittlungsansätze hin zu überprüfen. Soweit konkrete Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen bestehen, muss der Notar alle in Betracht kommenden Ermittlungsansätze vollständig ausschöpfen (OLG Bamberg, ZEV 2016, 580; OLG Jena, NotBZ 2016, 186; LG Berlin, ErbR 2019, 449 (450). Der BGH betont nochmals ausdrücklich, dass der Notar stets diejenigen Nachforschungen anzustellen hat, die ein objektiver Dritter in der Lage des pflichtteilsberechtigten Nichterben für erforderliche halten würde. Dabei müssen die Ermittlungen, wie auch die gesamte Verfahrensgestaltung, dem Zweck des notariellen Nachlassverzeichnisses hinreichend Rechnung tragen. Der Notar hat dabei stets zu berücksichtigen, dass das notarielle Nachlassverzeichnis der Verwirklichung der grundgesetzlich geschützten Erbrechtsgarantie dient. Die verfassungsrechtliche Dimension fordert vom Notar im Hinblick auf die Entscheidung über das "Ob" und "Wie" der Ermittlungen eine besondere Sorgfalt (BVerfG, MittBayNot 2017, 400; Schönenberg-Wessel, Nachlassverzeichnis-HdB, § 13 Rn 3).
Bedauerlich ist, dass der BGH den vorliegenden Fall nicht dazu genutzt hat zum Hinzuziehungsrecht des Pflichtteilsberechtigten etwa in einem orbiter dictum Stellung zu nehmen. Es wäre wünschenswert, wenn auch in diesem hoch streitigen Thema bald eine höchstrichterliche Klärung herbeigeführt würde.
von Rechtsanwalt und Notar Ulf Schönenberg-Wessel, Kiel
ZErb 8/2020, S. 286 - 288