Anwaltliche Handlungsstrategien nach der Pflichtteilsreform

von Dr. Stefanie Scheuber, Fachanwältin für Erbrecht, Nürnberg

Schriftenreihe "zerb wissenschaft", Bonn 2014, 224 Seiten, broschiert, 39,00 EUR

ISBN: 978-3-95661-015-8

"Pflichtteilstreitigkeiten zu Lebzeiten des Erblassers" – alleine der Titel der Dissertation lässt den erbrechtlichen Praktiker die Stirn fragend in Falten legen. Welche Pflichtteilsstreitigkeiten soll es denn bereits vor dem Ableben des Erblassers geben? Bekannt waren bislang in der Praxis allenfalls Feststellungsklagen in Bezug auf die Frage der Berechtigung einer Pflichtteilsentziehung. Die Dissertation zeigt jedoch auf, dass zahlreiche Fragen im Bereich des Pflichtteilsrechts bereits zu Lebzeiten des Erblassers geklärt werden können. Damit einher gehen auch vielfältige Gestaltungs- und Handlungsstrategien zu Lebzeiten des Erblassers.

Die Verfasserin setzt sich mit der Erbrechtsreform aus dem Jahre 2010 und den sich durch die Reform neu ergebenden Möglichkeiten und Fragestellungen auseinander, insbesondere auch im Bereich der Testamentsgestaltung. Hat die Reform die Gestaltungsmöglichkeiten des Erblassers im Rahmen letztwilliger Verfügungen oder im Bereich der vorweggenommenen Erbfolge zur Vermeidung zukünftiger Pflichtteilsstreitigkeiten geändert? Welche neuen Varianten, aber auch Fallen, ergeben sich aus der Erbrechtsreform für den anwaltlichen Berater bei der Durchsetzung der Belange des Pflichtteilsberechtigten zu Lebzeiten des Erblassers? Welche Fragestellungen und Fallstricke ergeben sich hieraus für den erbrechtlichen Berater nach dem Tod des Erblassers?

In Teil I stellt die Autorin zunächst die historische Entwicklung des Pflichtteilsrechts dar. Sodann wird die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22.6.2005 besprochen, in der erstmals von einem Verfassungsrang des Pflichtteilsrechts gesprochen wird. Die Begründung wird aus einem historischen Blickwinkel diskutiert, dann in Verbindung mit anderen europäischen Rechtsordnungen. Schließlich erfolgt eine systematische Betrachtung der Entscheidung und zuletzt beleuchtet die Autorin die Begründung vor dem Hintergrund der allgemeinen Familienbindung. Da sich die Kernaussagen des Verfassungsgerichts auf das Verhältnis vom Erblasser zu seinen Abkömmlingen beziehen, zieht die Verfasserin dann noch zusätzlich entsprechende Rückschlüsse auf das Pflichtteilsrecht der Ehegatten und Eltern.

In einem nächsten Abschnitt erfolgt eine Darstellung der Erbrechtsreform 2010 in Form einer Gegenüberstellung der alten Vorschriften mit den Neuregelungen.

In Teil II der Dissertation werden grundsätzliche Fragen zur Stellung des Pflichtteilsberechtigten beleuchtet. Zunächst erfolgt die Betrachtung aus der Sicht des Erblassers, sodann aus der des Pflichtteilsberechtigten. Die Autorin arbeitet jeweils aus den beiden Blickwinkeln heraus, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine Feststellung des Pflichtteilsrechts an sich die Wirksamkeit eines Pflichtteilsverzichts oder einer Pflichtteilsentziehung sowie die Relevanz von Schenkungen auf den Pflichtteil zu Lebzeiten des Erblassers zulässig sind. Insbesondere an dieser Stelle des Buchs merkt man, dass es sich bei der Autorin um keine "abgehobene" Theoretikerin handelt, sondern vielmehr um eine grundsolide Erbrechtspraktikerin, die tagtäglich mit den Tücken des Erbrechts ringt. Gerade hier ergibt sich für den im Erbrecht tätigen Anwalt durch die Lektüre ein spürbarer Mehrwert in der täglichen Arbeit. Es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wichtige Rechtsfragen noch zu Lebzeiten des Erblassers, also zu einem Zeitpunkt zu klären, indem eine Beweisführung noch nicht durch einen langen Zeitablauf erschwert ist, wie so häufig.

Auch im dritten Teil des Werks finden sich hochinteressante Gedanken, Bewertungen und Lösungsansätze für "typische Sachverhalte in der praktischen Tätigkeit" eines Erbrechtsanwalts. Zunächst wird die brisante und in der Gerichtspraxis zunehmend auftretende Frage erörtert, ob Schenkungen, deren Wert zum Zeitpunkt der Schenkung der niedrigere ist, auch noch zusätzlich eine Abschmelzung nach § 2325 Abs. 3 BGB erfahren sollen. Die Autorin vertritt die Auffassung, dass die Doppelbegünstigung zulasten des Pflichtteilsberechtigten der gesetzlich vorgegebene und damit richtige Weg sei. Eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage steht freilich noch aus!

Des Weiteren wird dann noch die nicht minder interessante Frage der Wertrelevanz des Nießbrauchrechts bei späterer Aufgabe des Rechts diskutiert und weitere praxisrelevante Sachverhaltskonstellationen, die aus der Erbrechtsreform resultieren. Besonders pikant und lesenswert ist das Fallbeispiel auf Seite 99. Der Erblasser verschenkt sein Haus an seine Frau, erbt dieses kurz darauf wieder und verschenkt es ein weiteres Mal an seine Tochter. Dann stirbt er selbst und der Sohn macht Pflichtteilsansprüche gegen seine Schwester geltend. Hier stellt sich das Problem der zweimaligen Schenkung ein und desselben Gegenstands im Rahmen ...

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