Herr Wichmann erläuterte, dass Ausgangsbasis deutscher Abkommenspolitik die Musterabkommen der OECD seien, im Verhältnis zu den Entwicklungsländern das der Vereinten Nationen. Berücksichtigt werden müsse, dass die Autorität dieser Abkommen als Muster zunehmend schwinde. Tendenziell könne eine zunehmende Divergenz der Musterabkommen beobachtet werden. Innerhalb des Musters der OECD sei eine Zunahme von Bemerkungen und Vorbehalten zum Kommentar, von Vorbehalten gegenüber dem Musterabkommen und vor allem eine Fülle von Alternativvorschriften festzustellen, die zu einer Reduktion der Empfehlungswirkung des Musters führten.
Hinsichtlich der Methodenfrage gelte das Primat der Freistellungsmethode, nachgelagert fände die Anrechnungsmethode Anwendung. Die Anwendung der Freistellungsmethode sei ausschließlich dann gerechtfertigt, wenn die Gefahr einer Doppelbesteuerung bestehe. Wenn allerdings im anderen Vertragsstaat eine Besteuerung entweder gar nicht oder in zu niedrigem Umfang stattfinde, bestehe kein Bedürfnis für eine Vermeidung der Doppelbesteuerung. Grundsätzlich existiere aus deutscher Rechtsperspektive ein umfangreiches Sicherungssystem, das eine abkommensrechtliche Freistellung von Einkünften versage, wenn die Einkünfte im Ausland nicht oder nicht ausreichend besteuert würden. Umgesetzt werde diese Zielbestimmung insbesondere durch Subject-to-tax-Klauseln und Switch-over-Klauseln oder durch unilaterale Regelungen in Gestalt von Treaty Overrides. Im Wesentlichen erlaubten diese Maßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen die Anwendung der Anrechnungsmethode anstelle der Freistellungsmethode. Hinzu kämen Aktivitätsklauseln, die einer als missbräuchlich qualifizierten Inanspruchnahme der Freistellungsverpflichtung entgegenwirkten und hierfür die Freistellung unter dem Vorbehalt einer echten wirtschaftlichen Tätigkeit im Quellenstaat gewährten. Hinsichtlich der Switch-over-Klauseln sei eine Tendenz der Flexibilisierung dahingehend zu erkennen, von den Voraussetzungen eines Qualifikationskonflikts oder der Missbrauchsvermeidung Abstand zu nehmen, um die freie Anwendung einer Umschaltklausel zu ermöglichen. Schwierig sei es hierbei, festzustellen, unter welchen Voraussetzungen von einer Nichtbesteuerung und wann nur von einer Andersbesteuerung auszugehen sei. Die Uneinheitlichkeit der Aktivitätsklauseln und ihre Infektionswirkung würden zu Recht kritisiert.
Entsprechend der Grundtendenz des OECD-Musterabkommens sei die deutsche DBA-Politik darauf ausgerichtet, Quellensteuern, insbesondere auf zwischengesellschaftliche Dividenden, Lizenzgebühren und Zinsen, niedrig zu halten bzw. zu eliminieren. Zwischen den Mitgliedsstaaten der EU seien Quellensteuern bereits weitgehend durch EU-Richtlinien eliminiert. Insbesondere die Mutter-Tochter-Richtlinie habe auf internationaler Ebene eine Sogwirkung entfaltet. Doppelbesteuerungsabkommen mit Industriestaaten außerhalb der EU sähen mit zunehmender Tendenz entsprechende Regelungen vor. Im Hinblick auf die Entwicklungsländer müsse berücksichtigt werden, dass Quellensteuern einen wichtigen Beitrag zur entwicklungspolitisch gewünschten Eigenfinanzierung darstellten.
Den internationalen Tendenzen zur Ausweitung der Betriebsstättenbesteuerung entgegenzuwirken, bleibe auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe der deutschen Abkommenspolitik. Kritisch stehe er einem deutschen Abkommensmuster gegenüber, da jede Abkommensverhandlung von den individuellen Vorstellungen und Zielen der beteiligten Vertragsstaaten, deren Abkommenspraxis und -politik geprägt werde.