Ein Leitfaden zur Begutachtung der Geschäfts- und Testierfähigkeit
Tilman Wetterling
Kohlhammer, Stuttgart 2016, 235 Seiten, ca. 49,00 EUR
ISBN: 978-3-17-029378-6
Können Sie nachts nicht schlafen? Dann üben Sie Subtraktion: 100-7= 93, 93-7=86, 86-7= Na? Wissen Sie es? Und wieviele Schritte weiter kommen Sie? Sie können auch in langweiligen Sitzungen Uhren malen und sich überlegen, was man alles im Supermarkt einkaufen kann. Durch diese Übungen haben Sie vielleicht eine Chance, später mal nicht so schnell als dement, geschäfts- oder testierunfähig beurteilt zu werden. Was diese Aufgaben aus dem DemTec-Test bezwecken, wie sie mit einer rechtlichen Beurteilung in einen Zusammenhang gebracht werden können und welche Kriterien und Tests noch bei den verschiedenen Krankheitsformen angebracht sind, wissen Sie dadurch allerdings nicht.
Dazu benötigen Sie eingehende Erläuterungen, wie sie jetzt in dem Buch des Prof. Dr. med. Dipl.-Chem. Tilman Wetterling zu finden sind, einem Neurologen und Psychiater, der als Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Vivantes Klinikums Kaulsdorf in Berlin arbeitet und an der Charité in Berlin lehrt. Zudem wird er aufgrund seiner Vorträge u. a. auf dem Erbrechtstag der AG Erbrecht im DAV und beim DAT für den AK Erbrecht Berlin bekannt sein.
In den meisten Rechtsgebieten ist es selbstverständlich, dass Gutachten im Verfahren von den Beteiligten kritisch geprüft und angezweifelt werden. Wenn es um die Geschäfts- oder Testierfähigkeit sowie die Betreuungsbedürftigkeit geht, existiert mitunter eine Sachverständigengläubigkeit, die erstaunlich ist. So meinte ein Richter in einem Betreuungsverfahren, dass er ohnehin dem ärztlichen Gutachten folgen müsse. Zu dem Rezensenten gewandt sagte er: "Da kann man auch Mickey Mouse auf den Richterstuhl setzen."
Selbst, wenn einem Gutachten nicht blind geglaubt wird, fehlt es uns Juristen meist an medizinischer Fachkenntnis, um es fundiert anzugreifen, Methode, Kompetenz und Folgerungen des Sachverständigen erfolgreich infrage zu stellen, damit das Gericht zu einem anderen Ergebnis kommt oder ein neues Gutachten in Auftrag gibt. Mit dem Werk vom Wetterling haben Juristen nun ein sehr gutes Hilfsmittel zu Hand, um in Verfahren um Geschäfts- und Testierfähigkeit kompetent agieren zu können.
Wetterling stellt die nach § 104 BGB wesentliche "krankhafte Störung der Geistestätigkeit" dar. Dabei geht er auf die verschiedenen Krankheiten ein, von der Demenz über die Depression bis zum manischen und bipolar affektiven Syndrom, der Schizophrenie und Suchterkrankungen. Diese Differenzierung erscheint vielleicht mühsam, ist aber notwendig. Sie hilft auch, das Buch als Nachschlagewerk im konkreten Fall zu nutzen. In der zweiten Hälfte geht der Autor auf Prozedere und Methodik der Begutachtung ein und beleuchtet die Anhaltspunkte für sie. So sind Zeugenaussagen in Gegenwart des Sachverständigen aufzunehmen und ebenso zu bewerten wie vorhandene medizinische Unterlagen. Schließlich wird auf die verschiedenen konkreten Störungen eingegangen, welche Gründe für das Entfallen von Geschäfts- und Testierfähigkeit sein können, also z. B. Gedächtnisstörungen, formale Denkstörungen und Einflüsse Dritter.
Zu Beginn und auch an einzelnen Stellen der weiteren Ausführungen stellt Wetterling die rechtlichen Definitionen, Begründungen und Zusammenhänge dar, was weitgehend gelungen ist. Der Autor hat sich offensichtlich gut in die Materie eingelesen und sicher auch fachkundig beraten lassen. Trotzdem gibt es einige Unschärfen im Juristischen. So wie ein Jurist kaum ein medizinwissenschaftliches Werk verfassen kann, wird dies auch in der anderen Richtung gelten. Eine Co-Produktion mit einem Juristen hätte zwar erhebliche Abstimmung erfordert, dem Werk aber zu einem noch größeren Praxisnutzen verholfen.
Trotzdem gilt ohne wesentliche Abstriche: Wetterling hat ein sehr gutes Buch für Juristen geschrieben, die sich mit Geschäfts- und Testierfähigkeit befassen müssen. Es ist im Prozess und in der außergerichtlichen Auseinandersetzung sowohl als Nachschlagewerk für medizinische Fragen als auch für die Überprüfung der handwerklichen Arbeit des Sachverständigen geeignet. Wer sich öfter mit der Materie beschäftigt, kann das Werk zudem komplett lesen und viel lernen. Es wird spätestens dann zu erkennen sein, dass man den Richterstuhl doch nicht mit Mickey Mouse besetzen kann.
Autor: Dr. Dietmar Kurze
Dr. Dietmar Kurze, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Erbrecht, VorsorgeAnwalt
ZErb 1/2017, S. 032