Daher ist es Aufgabe des zur Beurteilung der Testierfähigkeit hinzugezogenen psychiatrischen Sachverständigen, sowohl den medizinischen Befund einer Geisteskrankheit oder -schwäche festzustellen, als auch vor allem deren Auswirkung auf die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit des Erblassers abzuklären.[75] Entscheidend ist, ob die psychischen Funktionen des Auffassens, des Urteilens und des kritischen Stellungnehmens durch die Geisteskrankheit oder -schwäche so sehr beeinträchtigt sind, dass der Erblasser nicht mehr fähig ist, die Bedeutung seiner letztwilligen Verfügung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln,[76] ob krankhafte Empfindungen und Vorstellungen die Bestimmbarkeit des Willens durch normale, vernünftige Erwägungen aufgehoben haben.[77]

[75] BayObLG ZEV 2002, 234; hierzu eingehend Wetterling, ErbR 2014, 94.
[76] BGH FamRZ 1958, 127/128.
[77] BayObLGZ 1956, 377/383.

(1) Befund einer Geisteskrankheit oder Geistesschwäche

Das Gesetz unterscheidet zur Testierunfähigkeit die Geistesschwäche, die krankhafte Störung der Geistestätigkeit und die Bewusstseinsstörung.[78] In medizinischer Hinsicht unterscheiden sich diese wie folgt:

Geistesschwäche ist ein genetisch oder durch externe Einflüsse (Unfall) bedingter dauerhafter irreversibler Zustand,[79] z. B. Minderbegabung, Residualzustände nach Psychosen oder Unfällen.[80]
Eine krankhafte Störung der Geistestätigkeit ist hingegen ein durch eine Erkrankung hervorgerufener Zustand, der im Falle der Heilung der Krankheit endet; hier kommt es entscheidend auf den Zustand zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung an. Hierunter fallen Hirnleistungsstörungen wie Demenz[81] und wahnhafte Störungen wie Schizophrenie oder wahnhafte Depressionen.[82]
Unter Bewusstseinsstörung fällt z. B. Delir,[83] Koma, Intoxikation, Trunkenheit,[84] Drogenrausch,[85] Hypnose etc.

Eine Intoxikation kann auch durch Multimedikation eintreten.[86] Doering-Striening wies auf dem 5. Seniorenrechtstag am 9.5.2014 in Berlin auf die zunehmende Bedeutung dieses Phänomens hin. Während Cording[87] noch darauf hinweist, dass die Auswirkungen von Medikamenten im Übrigen überschätzt werden, äußert sich Wetterling[88] jüngst dahingehend, dass dem möglichen Einfluss psychotroper Substanzen bei der Beurteilung der Geschäfts- und Testierfähigkeit vergleichsweise wenig – vielleicht zu wenig – Beachtung geschenkt wird.

Auch Erschöpfungszustände seelischer oder körperlicher Art sowie die Drohung mit Verlassenwerden oder körperlicher Gewalt können den Grad einer Bewusstseinsstörung erreichen[89], ebenso wie formale Denkstörungen wie wahnhaftes Misstrauen[90] und die Einflussnahme Dritter,[91] was insbesondere dann naheliegend ist, wenn der Erblasser bei der Beurkundung kaum gesprochen hat und der Bedachte beim Notar zugegen und wortführend war.[92]

[78] Staudinger/Baumann, § 2229 BGB Rn 35 ff.
[79] Staudinger/Baumann, § 2229 BGB Rn 28.
[80] Cording, ZEV 2010, 115; Wetterling, ErbR 2010, 345; ders. ErbR 2014, 94.
[81] Eingehend Wetterling, ErbR 2014, 94, 98.
[82] Wetterling, ErbR 2010, 345.
[83] Wetterling, ErbR 2014, 94.
[84] Siehe hierzu Wetterling, ErbR 2015, 179, und Brandenburgisches OLG ErbR 2014, 393.
[85] Wetterling, ErbR 2015, 179.
[86] Wetterling, ErbR 2015, 179; ders, ErbR 2010, 345. Diese Auswirkungen einer medikamentösen Schmerztherapie auf die Testierfähigkeit werden allerdings oft überschätzt, siehe etwa Brandenburgisches OLG ErbR 2014, 141 = RNotZ 2014, 321.
[87] ZEV 2010, 23, 27.
[88] ErbR 02015, 179.
[89] Burandt/Rojahn/Lauck, § 2229 BGB Rn 16.
[90] Cording, ZEV 2010, 115, 118.
[91] BGH NJW 1996, 918; BGH NJW 1970, 1680; BayObLG FamRZ 1990, 318; zur Beeinflussung durch Dritte eingehend Wetterling, ErbR 2015, 544.

(2) Auswirkungen auf die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit des Erblassers – Symptom- und Verhaltensebene

Die genannten Zustände oder Krankheiten führen nicht per se zu Testierunfähigkeit. Vielmehr muss durch Gericht und Sachverständige im Einzelfall untersucht werden, ob sie die Einsichts- und Handlungsfähigkeit des Erblassers ausgeschlossen haben.[93] Entscheidend ist die Fähigkeit, im Zeitpunkt der Testamentserrichtung einen freien Willen zu bilden.[94] Hierzu gehören[95]

die Fähigkeit, bestimmte Sachverhalte aufzufassen und zu verstehen,
die Fähigkeit, die Informationen rational und emotional zu verarbeiten,
die Fähigkeit, den Sachverhalt angemessen zu bewerten,
die Fähigkeit, den eigenen Willen auf der Grundlage von Verständnis und Verarbeitung und Bewertung der Information zu bestimmen, zu äußern und danach zu handeln.

Zu prüfen sind daher die Auswirkungen auf kognitive Funktionen und auf Persönlichkeit und Wertegefühl.[96]

Die Beeinträchtigungen müssen sich auf den für das Testat relevanten Sachverhalt erstrecken, also den Wert des Nachlasses und die Personen, die als gesetzliche Erben in Betracht kommen.[97] So können Personen mit kognitiven Gedächtnisstörungen noch eine Art "emotionales Gedächtnis" haben, aufgrund dessen sie ihre affektiven Reaktionen auf bestimmte Personen unreflektiert und unbewusst speichern und daraus resultierende Präferenzen oder Aversionen entwickeln.[98] Entscheidend für eine...

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