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Das Instrument der Pflichtteilsentziehung ermöglicht es einem Erblasser, in genau und abschließend festgelegten Sachverhalten, einem Pflichtteilsberechtigten ausnahmsweise dessen verfassungsmäßig garantierte Mindestteilhabe am Nachlass zu entziehen. Das Recht der Pflichtteilsentziehung ist durch die Erbrechtsreform des Jahres 2010 umgestaltet worden. Der Beitrag untersucht die Auswirkungen der Rechtsänderung anhand der dazu ergangenen Rechtsprechung.
I. Einleitung
Die Pflichtteilsentziehung stellt in der Praxis die wichtigste Form des Verlustes des Pflichtteils dar. Die Möglichkeit, einer pflichtteilsberechtigten Person den Pflichtteil zu entziehen, wird dem Erblasser vom Gesetz aber nur in eng begrenzten Konstellationen gewährt. Nur wenn einer der in § 2333 Abs. 1 BGB genannten Entziehungsgründe vorliegt und der Erblasser in seiner letztwilligen Verfügung (§ 2336 Abs. 1 BGB) die erforderlichen Förmlichkeiten beachtet (§ 2336 Abs. 2 BGB). Die Anforderungen sind in materieller wie formeller Hinsicht sehr hoch, weshalb es nur selten zu einer erfolgreichen Entziehung kommt.
Im April 2005 entschied das BVerfG, dass die Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Nr. 1 und 2 BGB aF mit dem Grundgesetz vereinbar waren; zugleich hatte es das Pflichtteilsrecht als von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt angesehen. Für bestimmte Ausnahmefälle habe, so das BVerfG, der Gesetzgeber von Verfassungs wegen Regelungen vorzusehen, die dem Erblasser eine Entziehung der Mindestnachlassteilhabe des Kindes ermöglichen. Dabei dürfe er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums generalisierende und typisierende Regelungen verwenden und etwa die Pflichtteilsentziehung an solche Tatbestandsmerkmale knüpfen, deren Vorhandensein in einem späteren Gerichtsverfahren relativ leicht nachzuweisen sind. Zudem könne sich auch der Erbe vom Eintritt des Erbfalls an auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG berufen. Der Gesetzgeber sei daher gehalten, auch ihm die rechtliche Möglichkeit zu verschaffen, den gegen ihn gerichteten Pflichtteilsanspruch eines nahen Angehörigen des Erblassers unter Rückgriff auf die Pflichtteilsentziehung abzuwehren. Das BVerfG betont also das grundrechtliche Spannungsverhältnis zwischen Testierfreiheit und Pflichtteilsrecht.
Der Gesetzgeber hat mit seiner Erbrechtsreform des Jahres 2010 auf diese Vorgaben des BVerfG reagiert und dabei versucht, die geforderte praktische Konkordanz zwischen den beiden verfassungsrechtlich geschützten Positionen Testierfreiheit einerseits und Pflichtteilsrecht andererseits herzustellen. Die Neuregelung ist zum 1.1.2010 in Kraft getreten. Sie gilt für sämtliche Erbfälle, die seither eingetreten sind (Art. 229 § 23 Abs. 4 EGBGB). Es kommt weder darauf an, dass das Ereignis, auf dem der Pflichtteilsentzug beruht, vor dem 1.1.2010 liegt noch darauf, dass das Testament zuvor formuliert worden ist; eine Art Bestandsschutz für alte letztwillige Verfügungen gibt es nicht.
II. Der Katalog der Entziehungsgründe
Beim Katalog der Entziehungsgründe des § 2333 Abs. 1 BGB handelt es sich nach allgemeiner Ansicht um eine nicht analogiefähige, kasuistische Aufzählung der Entziehungsgründe (numerus clausus der Entziehungsgründe). Der Katalog ist auch keiner Gesamtanalogie zugänglich. Daher kann namentlich wegen einer Entfremdung oder einer Zerrüttung des Verhältnisses zwischen dem Erblasser und einem nahen Angehörigen letzterem der Pflichtteil nicht entzogen werden. Auch nach der Reform rechtfertigen weder ein nicht vorhandener persönlicher Kontakt noch eine "seelische Grausamkeit" die Entziehung des Pflichtteils. Auch eine Art Auffangtatbestand wurde nicht geschaffen.
III. Die Pflichtteilsentziehung nach § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB
1. Neuerungen durch die Reform von 2010
Bis zur Reform von 2010 war der heutige Entziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB auf zwei Kataloggründe aufgeteilt gewesen. Seither sind in § 2333 Abs. 1 Nr. 2 BGB die bisherigen Nr. 2 u. 3 aF zusammengefasst und zugleich geringfügig modifiziert worden. Damit ihm der Pflichtteil ...