1. Die rechtlich formalen Abläufe im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (früher Art. 251 EGV, jetzt Art. 294 AEUV) lassen sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Vorschlag der Kommission – 1. Lesung Europäisches Parlament (im Folgenden: EP) – gemeinsamer Standpunkt des Rates – 2. Lesung EP – ggf. Vermittlung und 3. Lesung. Der Gesetzgebungsakt ist bereits dann erlassen, wenn der Rat den Standpunkt des EP aus dessen 1. Lesung billigt (Art. 294 Abs. 4 AEUV). Um die Bemühungen um eine sog. "Einigung in 1. Lesung" besser einschätzen können, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass das EP in seiner 2. Lesung für Änderungen am gemeinsamen Standpunkt des Rates eine absolute Mehrheit braucht (Art. 294 Abs. 7 lit. c AEUV), was jeder erfahrene Abgeordnete des EP und vor allem der Berichterstatter im Hinterkopf hat.
2. Wenn ich von einem Kräftedreieck und damit von der Kommission als de facto Mitgesetzgeber spreche, tue ich dies weniger wegen des Vorschlagsmonopols der Kommission als wegen der Möglichkeiten, die sie als Behörde aufgrund ihrer erheblichen Sachkompetenz und Verwaltungskapazität hat. "Kommissare, Regierungen, Abgeordnete kommen und gehen ... die Verwaltung bleibt bestehen". Ganz anders das Europäische Parlament und seine 751 Abgeordneten mit unterschiedlichen politischen und nationalen Prägungen, den politischen Strömungen, Fraktionen und alle fünf Jahre neuen Mitgliedern, und auch der Rat agiert nicht wie eine Behörde. Keine Rolle spielt in diesem Zusammenhang das fehlende Gesetzesinitiativrecht des EP. Diese Frage beschäftigt eher Verfassungstheoretiker, in der politischen Wirklichkeit ist es für den Einfluss des EP und seine Legitimation als Volksvertretung nur von untergeordneter Bedeutung und im Übrigen in Artikel 225 AEUV als politisches Instrument vorgesehen.
3. Auf der nationalen Ebene nehmen wir Politik und Gesetzgebung im Wesentlichen in der Gegensätzlichkeit, ja Konfrontation der politischen Kräfte wahr. In der Gesetzgebung arbeiten die Regierung und deren Fachleute aus den Ministerien eng mit den Politikern und Abgeordneten der sie tragenden Parlamentsmehrheit zusammen, während frei nach Franz Müntefering gilt: "Opposition ist Mist." Das EP wählt zwar den Kommissionspräsidenten, und die Mehrheitsfraktion hat erheblichen Einfluss darauf, aus welcher Parteienfamilie der Kommissionspräsident kommt, es bestätigt die Kommission als Ganzes, auch erfolgen die meisten Abstimmungen im EP entlang der politischen Grundrichtungen, aber es gibt keine "Regierungsmehrheit", keine festen, dauerhaften Koalitionen; Fraktionsdisziplin wird durchaus geübt, aber sie beruht mehr auf der gemeinsamen politischen Grundüberzeugung und auf Kollegialität und unterliegt nicht diesem starken Druck, weil bei einer Abstimmung keine Regierung infrage gestellt ist. Im Rat sind die Verhältnisse wieder anders. Insgesamt sind die Verfahren weniger auf Konfrontation und mehr auf Kooperation ausgerichtet, Meinungsbildung und Ergebnisfindung sind offener.
4. Europäisches Parlament und Rat agieren nicht wie durch Mauern getrennt. Es bestehen eine dynamische Wechselbeziehung und Beeinflussung. Das EP hat durchaus im Auge, ob eine bestimmte Position im Rat mehrheitsfähig ist, wie auch Mehrheiten im EP – vor allem, wenn sie deutlich sind – die Entscheidungsfindung im Rat befördern können. Die Mitentscheidung des EP ist – von der demokratischen Legitimation ganz abgesehen – auch für das Vorankommen eines Gesetzgebungsverfahrens positiv zu werten.
5. Bei den Beratungen zur EU-ErbVO gab es zwar keine grundsätzlich abweichenden Besonderheiten zu beachten, aber eigene Akzentuierungen:
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Politisch-ideologische Konflikte spielten keine Rolle. Das Dossier wurde als sehr fachlich und schwierig empfunden. |
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Nationale Traditionen und Sichtweisen – ich möchte hier nicht von Interessen sprechen – spielten natürlich nicht nur im Rat, sondern auch im EP eine Rolle, aber die Art ihrer Behandlung und die Auswirkungen sind nicht mit der Situation im Rat vergleichbar. |
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Das "opt-out" des Vereinigten Königreichs und Irlands bedeutete eine erhebliche Komplikation. Bis wenige Wochen vor der Schlussabstimmung im EP war offen, ob beide Mitgliedstaaten sich nicht doch dem Gesetzeswerk anschließen würden. Da die speziellen Interessen der beiden Mitgliedstaaten – vor allem das sog. "Clawback" und das Verwaltungsverfahren (Art. 29 EU-ErbVO) – fraktionsübergreifend vertreten wurden, ergab sich ein Stimmenblock von ca. 100 Abgeordneten mit vollem Stimmrecht im EP, was für die Meinungsbildung und Mehrheitsfindung im Auge zu behalten war. Im Rat hatten beide Mitgliedstaaten zwar kein Stimmrecht, sie konnten aber ihre Vorstellungen jederzeit einbringen und haben dies auch getan. Die Position Dänemarks ist in diesem Zusammenhang wieder eine andere. Dänemark hat kein "opt-out", sondern nimmt grundsätzlich an dieser Gesetzgebung nicht teil, wobei die dänischen Abgeordneten im EP volles Stimmrecht haben. |
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Es bestand von Anfang an Übereinstimmung im EP wie auch im und mit de... |