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Mit den Beratungen zur Erbrechtsverordnung (EU-ErbVO) war ich zuvorderst als Politiker, nicht als Wissenschaftler befasst, sodass dieser Beitrag durchaus auch politisch zu verstehen ist, gewissermaßen als kleiner Werkstattbericht. Dieser Beitrag konzentriert sich auf einzelne in der gegenwärtigen Diskussion besonders umstrittene Sachpunkte, ohne allzu tief in die dort ausgeführten rechtlichen Details einzusteigen. Vielmehr soll er den politischen Prozess und die Ziele des EU-Gesetzgebers bei der Ausarbeitung des erbkollisionsrechtlichen europäischen Instruments darstellen, aus dem sich die heutige EU-ErbVO entwickelte. Unter dem Eindruck der zwischenzeitlich erfolgten Veröffentlichungen zur EU-ErbVO möchte ich schon vorab ganz allgemein bemerken, dass für die Verordnung nicht nur die ohnehin selbstverständliche autonome Auslegung gilt, sondern dass sie als eine Neuschöpfung in ganz besonderer Weise aus sich heraus aus dem Zusammenspiel ihrer Vorschriften, aus dem Telos, der vis ac potestas, auszulegen ist, wozu auch die historische Auslegung im Werdegang der Vorschriften vom Vorschlag der Kommission bis zum endgültigen Text gehört.
A. Vom Amsterdamer Vertrag 1997 über den Wiener Aktionsplan 1998 bis zum Kommissionsvorschlag vom 14.10.2009
Nucleus ist der Amsterdamer Vertrag vom 2.10.1997, der das Kollisionsrecht aus der rein zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten – auf dieser beruhen die Übereinkommen von Brüssel 1968 (später Brüssel I VO) und Rom 1980 (später Rom I VO) – löste und erstmals eine Kompetenz für die Organe der Europäischen Union in Artikel 61 ff EGV schuf. Durch den Amsterdamer Vertrag kam es zum Wiener Aktionsplan 1998 und dem Maßnahmenprogramm 2000, in deren Folge die Europäische Kommission die bekannte Studie in Auftrag gab, die das Deutsche Notarinstitut in Zusammenarbeit mit den Professoren Lagarde (Paris) und Dörner (Münster) erstellte. Sie wurde im Herbst 2002 vorgestellt und war die wichtigste Vorarbeit und gleichzeitig auch Weichenstellung zur EU-ErbVO.
Erwähnt seien noch der Europäische Rat von Tampere 1999 und darauf aufbauend das Haager Programm 2004 und der Aktionsplan von Rat und Kommission von 2005.
Näher und konkreter wurde es mit dem Grünbuch der Kommission vom 1.3.2005 und der dazu verabschiedeten Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16.11.2006. Während ich den Angleichungen des materiellen Rechts nicht nur im Erbrecht eher zurückhaltend gegenüberstehe, befürworte ich die Rechtsvereinheitlichung des Internationalen Privatrechts in der Europäischen Union und bewerte die Entwicklung seit dem Amsterdamer Vertrag in diesem Bereich uneingeschränkt positiv.
Dennoch herrschte bei mir während der Beratungen zum Grünbuch eine gewisse Skepsis, ob angesichts der Schwierigkeit und der Sensibilität der Materie ein Erfolg möglich sei, und so war ich über den guten Vorschlag der Kommission und dessen überzeugendes Konzept positiv überrascht.
B. Die europäische Gesetzgebung im Kräftedreieck Kommission – Europäisches Parlament – Rat
1. Die rechtlich formalen Abläufe im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (früher Art. 251 EGV, jetzt Art. 294 AEUV) lassen sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen: Vorschlag der Kommission – 1. Lesung Europäisches Parlament (im Folgenden: EP) – gemeinsamer Standpunkt des Rates – 2. Lesung EP – ggf. Vermittlung und 3. Lesung. Der Gesetzgebungsakt ist bereits dann erlassen, wenn der Rat den Standpunkt des EP aus dessen 1. Lesung billigt (Art. 294 Abs. 4 AEUV). Um die Bemühungen um eine sog. "Einigung in 1. Lesung" besser einschätzen können, möchte ich darauf aufmerksam machen, dass das EP in seiner 2. Lesung für Änderungen am gemeinsamen Standpunkt des Rates eine absolute Mehrheit braucht (Art. 294 Abs. 7 lit. c AEUV), was jeder erfahrene Abgeordnete des EP und vor allem der Berichterstatter im Hinterkopf hat.
2. Wenn ich von einem Kräftedreieck und damit von der Kommission als de facto Mitgesetzgeber spreche, tue ich dies weniger wegen des Vorschlagsmonopols der Kommission als wegen der Möglichkeiten, die sie als Behörde aufgrund ihrer erheblichen Sachkompetenz und Verwaltungskapazität hat. "Kommissare, Regierungen, Abgeordnete kommen und gehen ... die Verwaltung bleibt bestehen". Ganz anders das Europäische Parlament und seine 751 Abgeordneten mit unterschiedlichen politischen und nationalen Prägungen, den politischen Strömungen, Fraktionen und alle fünf Jahre neuen Mitgliedern, und auch der Rat agiert nicht wie eine Behörde. Keine Rolle spielt in diesem Zusammenhang das fehlende Gesetzesinitiativrecht des EP. Diese Frage beschäftigt eher Verfassungstheoretiker, in der politischen Wirklichkeit ist es für den Einfluss des EP und seine Legitimation als Volksvertretung nur von untergeordneter Bedeutung und im Übrigen in Artikel 225 AEUV als politisches Instrument vorgesehen.
3. Auf der nationalen Ebene nehmen wir Politik und Gesetzgebung im Wesentlichen...