GG Art 80; StVG § 26a; OWiG § 4 Abs. 3
Leitsatz
Nach der am 27.4.2020 erfolgten Verkündung der 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften besteht, soweit die Änderungsverordnung wegen eines Verstoßes gegen das Zitiergebot aus Art. 80a Abs. 3 GG nichtig ist, die bis dahin geltende Rechtslage fort.
OLG Zweibrücken, Beschl. v. 5.11.2020 – 1 OWi 2 Ss Rs 124/20
Sachverhalt
Der Betr. wurde erstinstanzlich wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 28 km/h außerorts am 18.9.2019 verurteilt. Hiergegen wendet sich der Betr. mit seiner Rechtsbeschwerde, die er auf die Sachrüge stützt. Insb. führt er aus, die "neue StVO" sei wegen eines Zitierfehlers des Gesetzgebers "nicht in Kraft getreten", was sich wegen § 4 Abs. 3 OWiG auch auf Tatzeitpunkte vor dem 28.4.2020 auswirke. Da nach dem 28.4.2020 die Androhung von Geldbußen für die betroffene Handlung ganz weggefallen sei, sei dieser Rechtszustand als das mildere Gesetz i.S.d. § 4 Abs. 3 OWiG anzusehen, weswegen das Verfahren nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 206b StPO einzustellen sei. Die Gesetzesänderung sei auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren zu berücksichtigen.
Das OLG Zweibrücken hat die Rechtsbeschwerde zugelassen und sodann als unbegründet verworfen.
2 Aus den Gründen:
"… II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Eine Betrachtung der Rechtslage nach der Verkündung der 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften (BGBl I vom 27.4.2020, S. 814 ff.) führt nicht zu einer günstigeren Gesetzeslage für den Betr. hinsichtlich der Geschwindigkeitsüberschreitung vom 18.9.2019. Das angefochtene Urteil beruht – auch bei Berücksichtigung der nach dem 28.4.2020 bestehenden Rechtslage im Rechtsbeschwerdeverfahren – nicht auf einer Verletzung des materiellen Rechts."
1. Zutreffend verweist die Rechtsbeschwerde im Ausgangspunkt allerdings darauf, dass auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren auf die Sachrüge hin zu überprüfen ist, ob sich die materielle Rechtslage zugunsten des Betr. geändert hat, § 4 Abs. 3 OWiG (sog. lex mitior-Regel; vgl. zu den Grundlagen KK-OWiG/Rogall, 5. Aufl. 2018, OWiG § 4 Rn 20). Ebenfalls zutreffend nimmt die Rechtsbeschwerde dabei an, dass als “milderes Gesetz' auch ein zwischenzeitlich eingetretener Rechtszustand anzusehen ist, in dem eine Strafbarkeit (im Falle des gleichlautenden § 2 Abs. 3 StGB) oder eine Ahndungsfähigkeit als Ordnungswidrigkeit (im Falle des § 4 Abs. 3 OWiG) ganz weggefallen ist (vgl. v.a. aus dem Gebiet des Wirtschaftsstraf- und -bußgeldrechts BGH, NStZ-RR 2019, 49, 50; NJW 2017, 966 Rn 4; NStZ 1992, 535, 536; Reckmann, NZWiSt 2020, 293; Esser in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, Wirtschaftsstrafrecht, § 2 StGB Rn 4 ff.; Krenberger, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, § 4 OWiG Rn 4).
2. Nach vorherrschender Auffassung, der der Senat beitritt, ist dem Verordnungsgeber der 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften (a.a.O.; StVRÄndV; verkürzend sog. StVO-Novelle 2020) durch die unterlassene Nennung der gesetzlichen Ermächtigung aus § 26a Abs. 1 Nr. 3 StVG ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Zitiergebot aus § 80 Abs. 1 S. 3 GG unterlaufen, da trotz der unterlassenen Zitierung auch Regeln der Bußgeldkatalogverordnung geändert wurden, die mit der Verhängung von Fahrverboten im Zusammenhang stehen (BeckOK StVR/Friedrich, 8. Ed. 1.7.2020, StVO § 39 Rn 92 a ff.; Koehl, NJ 2000, 394; Krumm, DAR 2020, 476; Fromm, DAR 2020, 527, 528; siehe zusätzlich zum Ablauf des Verordnungsgebungsverfahrens Ipsen, NVwZ 2020, 1326, 1327 ff.). Damit hat der Verordnungsgeber seine Rechtssetzungsbefugnis nur unvollständig nachgewiesen. Bei einer Verordnung, die auf mehreren gleichstufigen Ermächtigungsnormen beruht (sog. horizontale Ermächtigungsmehrheit) ist dies nur dann der Fall, wenn sämtliche Ermächtigungsnormen genannt werden (so BVerfG, Urt. v. 6.7.1999 – 2 BvF 3/90, BVerfGE 101, 1 Ls 1 a; Beschl. v. 1.4.2014 – 2 BvF 1/12, BVerfGE 136, 69 Rn 99 – Gigaliner; Beschl. v. 18.6.2019 – 1 BvR 587/17 –, BVerfGE 151, 173 Rn 17–19 – Subdelegierte Verordnung; Maunz/Dürig/Remmert, 91. EL April 2020, GG Art. 80 Rn 127, 130). Das Zitiergebot hat Vergewisserungsfunktion und Begrenzungsfunktion für den Verordnungsgeber und dient der Nachprüfbarkeit der Verordnungsgebung für den Adressaten (vgl. zum Vorstehenden zusätzlich Leibholz/Rinck/Hesselberger in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 80. Lieferung 03.2020, Art. 80 GG Rn 256).
3.a. Die nach der am 27.4.2020 erfolgten Verkündung eingetretene Rechtslage betreffend die im geschilderten Rahmen fehlerhaften 54. Verordnung zur Änderung verkehrsrechtlicher Vorschriften hat für den hier zu beurteilenden Fall jedoch – anders als die Rechtsbeschwerde meint – nicht zu einer Situation geführt, in der das verfahrensgegenständliche Verhalten des Betr. nicht oder nicht mehr in gleicher Höhe mit einem Bußgeld zu ahnden wäre. Deshalb kommt eine Einstellung nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 206b StPO nicht in Betracht. Auch eine Zurückverweisun...