StVG § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 4 S. 1; FeV § 11 Abs. 1 S. 2 § 11 Abs. 2 S. 5 § 20 Abs. 1; FeV Anl. 4 Nr. 9.2.1 Nr. 9.6.2 Nr. 3 der Vorbemerkung der Anl. 4; BtMG § 13 Abs. 1 S. 2; SGB V § 31 Abs. 6

Leitsatz

1. Die Anwendung des Arzneimittelprivilegs (vgl. Nr. 9.6 der Anlage 4 der FeV) kommt bei einer Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis nur in Betracht, wenn für den Einsatz von Medizinal-Cannabis eine Indikation nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft besteht oder die Verschreibung zumindest ärztlich vertretbar sowie dessen Verabreichung zur Erreichung des Therapieziels unerlässlich (ultima ratio) ist.

2. Für die Beurteilung, ob die Behandlung mit Medizinal-Cannabis dem ultima-ratio-Grundsatz genügt, kann auf die hierzu in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in seinen Urteilen vom 10.11.2022 (u.a. B 1 KR 28/21 R, juris) entwickelten Maßstäbe zurückgegriffen werden.

3. Wird im Straßenverkehr ein drogentypischer Fahrfehler begangen und dabei ein THC-Wert festgestellt, der ein Vielfaches den Wert von 1,0 ng/ml übersteigt, bei dem für die nicht vom Arzneimittelprivileg umfasste gelegentliche Einnahme von Cannabis eine betäubungsmittelbedingte Beeinträchtigung der Fahrsicherheit nicht ausgeschlossen werden kann, so begründet dies Zweifel, ob bei einer Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß beeinträchtigt wird.

VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.9.2023 – 13 S 517/23

1 Sachverhalt

Der Kl. begehrt die Neuerteilung seiner ihm im Jahr 2020 entzogenen Fahrerlaubnis.

Mit Urt. v. 14.6.2022 – 14 K 604/22 – hat das VG Karlsruhe die Klage abgewiesen: Der Kl. habe schon deshalb keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Fahrerlaubnis, weil seine mangelnde Fahreignung feststehe. Beim Kl. könne mit Blick auf die Dauerbehandlung mit Arzneimitteln von einer regelmäßigen Einnahme von Cannabis i.S.d. Nr. 9.2.1 der Anlage 4 der FeV ausgegangen werden. Auf die privilegierende Spezialregelung für die Dauerbehandlung mit Arzneimitteln in Nummer 9.6 der Anlage 4 der FeV könne sich der Kl. nicht berufen. Es fehle bereits an Anhaltspunkten für die medizinische Indikation. Es sei nicht ersichtlich, dass der Kl. auch und gerade unter Einfluss der verordneten Menge an Cannabis hinreichend leistungsfähig zum Führen eines Kfz sei. Eine Privilegierung als Cannabis-Patient sei ausgeschlossen, da prognostisch davon ausgegangen werden müsse, dass der Kl. in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt sei, am Straßenverkehr teilnehme. Eine solche Prognose könne sich auf die polizeilichen Feststellungen am 2.5.2019 stützen, ausweislich derer der Kl. unter Ausfallerscheinungen gelitten habe. Sie werde durch das Gutachten des Universitätsklinikums Heidelberg v. 27.5.2019 bestätigt, nach dem das dem Kl. in zeitlicher Nähe zum Führen eines Kfz entnommene Blut eine – vor allem im Verhältnis zu dem für die Einhaltung des Trennungsgebots maßgeblichen Risikogrenzwert von 1 ng/ml – massive THC-Konzentration von 55 ng/ml aufgewiesen habe.

2 Aus den Gründen:

"… II. Die Berufung ist nach Zulassung durch den Senat statthaft und auch im Übrigen zulässig."

III. Die Berufung ist unbegründet. Das VG hat zu Recht die Klage des Kl. auf Verpflichtung des Beklagten zur Neuerteilung der Fahrterlaubnis abgewiesen …

2. … der Kl. [hat] keinen Anspruch auf Verpflichtung der Bekl. zur Neuerteilung der beantragten Fahrerlaubnis.

a. Das VG hat in seinem Urt. zutreffend ausgeführt, dass im Hinblick auf die Dauerbehandlung des Kl. mit Medizinal-Cannabis von einer regelmäßigen Einnahme von Cannabis im Sinne der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 der FeV und damit von einer Fahrungeeignetheit des Kl. auszugehen ist. …

b. Der Kl. kann die privilegierende Sonderregelung der Nr. 9.6.2 der Anlage 4 der FeV für die Dauerbehandlung mit Arzneimitteln nicht für sich in Anspruch nehmen.

Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom 6.3.2017 (BGBl I S. 403) Cannabis, das aus einem Anbau stammt, der zu medizinischen Zwecken unter staatlicher Kontrolle gemäß den Artikeln 23 und 28 Abs. 1 des Einheits-Übereinkommens von 1961 erfolgt, in die Anlage III des BtMG aufgenommen. Dadurch wurde (ausschließlich) Medizinal-Cannabis zu einem verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmittel. Dessen Verordnung ist auf Grundlage eines Privatrezepts möglich. Zusätzlich zur Verschreibungsfähigkeit schaffte der Gesetzgeber mit § 31 Abs. 6 SGB V die Möglichkeit der Erstattung der Behandlung mit Medizinal-Cannabis in der gesetzlichen Krankenversicherung. Vor diesem Hintergrund ist es rechtlich geboten, den Konsum von Medizinal-Cannabis aus dem Anwendungsbereich der Nr. 9.2.1 der Anlage 4 der FeV herauszunehmen, wenn es sich um die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels im Sinne der Nr. 3.14.1 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung v. 27.1.2014 (VkBl S. 110) in der Fassung vom 17.2.2...

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