Der BGH entwickelt seine Rechtsprechung zur Bemessung des Hinterbliebenengeldes konsequent fort. Nachdem er die Praxis in seinen Urteilen vom 6.12.2022 (VI ZR 168/21 und VI ZR 73/21) sozusagen eingenordet und festgestellt hat, wie sich das Verhältnis von Ansprüchen aus § 823 Abs. 1 BGB einerseits sowie § 844 Abs. 3 BGB, § 10 Abs. 3 StVG andererseits gestaltet, und in seinem Urt. v. 25.3.2023 (VI ZR 161/22) weiter geklärt hat, wie mit der im Gesetzgebungsverfahren bezüglich des Hinterbliebenengeldes benannten Größe von 10.000,00 EUR umzugehen ist, beschäftigt er sich in diesem Urteil mit weiteren für die Bemessung des Hinterbliebenengeldes maßgeblichen bzw. unmaßgeblichen Umständen.
1. Zum einen befasst er sich mit der in der Literatur unterschiedlich beurteilten Frage, ob die wirtschaftliche Lage des Hinterbliebenen, bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes eine Rolle spielt.
Die Frage ist von großer praktischer Bedeutung, weil sich die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Hinterbliebenen durch den Tod eines Angehörigen ja oftmals verschlechtern. Würde man nun diesem Umstand im Rahmen der Bemessung unmittelbar Rechnung tragen wollen, so hätte dies einschneidende Konsequenzen und könnte zu einer erheblichen Ausweitung des Hinterbliebenengeldes beitragen. Denn plötzlich wäre der Vermögensschaden, der dem Hinterbliebenen durch den Tod seines Angehörigen entsteht und der – jedenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 823 Abs. 1, 844, 845 BGB – nicht ersatzfähig ist, eine für die Geldentschädigung relevante Größe. Das könnte zu einer Erweiterung des ersatzfähigen Vermögensschadens durch die Hintertür führen.
Der BGH hat dem nun einen Riegel vorgeschoben. Er spricht einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen zwar nicht jede Bedeutung für den Bemessungsakt ab, stellt aber klar, dass diese Umstände nur Berücksichtigung finden können, wenn sie sich auf die seelische Verfassung des Hinterbliebenen in prägender Weise ausgewirkt haben. Maßstab der Bemessung bleibt damit in erster Linie das seelische Leid, mag es durch weitere Umstände wie eben die wirtschaftlichen Konsequenzen dieses Verlustes nun verstärkt sein oder nicht. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen haben demnach allenfalls mittelbare Auswirkungen auf die Bemessung des Hinterbliebenengeldes. Eine direkte Relation zwischen Ausmaß der wirtschaftlichen Schlechterstellung und Höhe des Hinterbliebenengeldes gibt es nicht.
Die Berücksichtigung setzt im Übrigen eine Kausalitätsbetrachtung voraus: Die durch den Tod des Angehörigen verursachten wirtschaftlichen Folgen für den Hinterbliebenen müssen sich auf die seelische Verfassung "in prägender Weise" ausgewirkt haben. Dies könnte bedeuten, dass mehr erforderlich ist, als eine bloße Mitursächlichkeit bezogen auf das durch den Tod hervorgerufene seelische Leid. Der Hinterbliebene wird jedenfalls ausdrücklich vortragen müssen, dass es auch die wirtschaftlichen Folgen des Todes seines Angehörigen sind, die sein seelisches Leid mit-"prägten".
2. Ein weiterer in dem Urteil beleuchteter Umstand betrifft das Verhalten des Schädigers im Strafverfahren. Die Klägerin hatte moniert, dass unberücksichtigt geblieben sei, dass der Beklagte in dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren seine strafrechtliche Verantwortung für den Tod des Vaters in Abrede gestellt hatte. Dass dadurch ihr seelisches Leid erhöht worden sei, hatte sie aber offenbar nicht ausdrücklich vorgetragen. Hätte sie es getan, so deutet der BGH an, könnte der "nemo tenetur" Grundsatz einer Berücksichtigung entgegenstehen; denn eine Erhöhung des Leids, das aus der Wahrnehmung berechtigter Interessen folgt, darf dem Schädiger nicht zum Nachteil gereichen. Allerdings dürfte hier das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. So ist es durchaus vorstellbar, dass eine Verteidigung, die auf Lügen aufgebaut ist oder den Geschädigten gar verächtlich macht, auch bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes berücksichtigt werden kann, wenn sie das seelische Leid erhöht hat.
3. Geeignet das seelische Leid zu erhöhen, sind jedenfalls die Auswirkungen des Todes auch auf die weitere Familie des Unfallopfers. Die Klägerin hatte schlüssig dargelegt, wie der Unfalltod ihres Vaters das Verhalten ihres autistischen Bruders verändert hatte und welche Beeinträchtigungen daraus für sie und ihre Familie entstanden waren. Zweifellos kann der Tod eines Familienangehörigen das gesamte soziale Geflecht ins Wanken bringen und die Atmosphäre in diesem sozialen Verbund so verändern, dass daraus eine weitere seelische Belastung erwächst. Auch diese Veränderungen sind daher für den Bemessungsakt von rechtlicher Relevanz und müssen nach BGH in die Entscheidung einfließen. Für den Anwalt des Hinterbliebenen bedeutet dies, dass er auch die mittelbar verursachten psychischen Unfallfolgen in ihrer Intensität und Dauer vollständig ermitteln und darstellen muss.
RA Dr. Hans-Joseph Scholten, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a.D.
zfs 1/2024, S. 15 ...