Komplizierter ist die Rechtslage, wenn der Antragsteller gesundheitlich (noch) nicht akut beeinträchtigt ist, ihm aber ein Testergebnis vorliegt, das einen Gendefekt bestätigt. Es handelt sich dann um einen "echten" prädiktiven Test, bei dem sich die Frage stellt, ob der Versicherungsnehmer die Ergebnisse aufdecken muss. Rechtsprechung zu dieser Frage liegt soweit ersichtlich nicht vor.
I. Grundsätzliche Überlegungen
Sowohl die Selbstverpflichtungserklärung als auch § 18 GenDG erfassen (nur) solche Tests, die der Feststellung erblicher Veranlagungen für noch nicht klinisch manifestierte Erkrankungen dienen, nicht aber diagnostische Tests, mit denen nach einer genetischen Ursache für ein bestehendes Beschwerdebild gesucht wird.
Nach § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG dürfen unterhalb der Erheblichkeitsschwelle (300.000 bzw. 30.000 EUR) "Ergebnisse oder Daten" aus (prädiktiven) Gentests nicht verlangt oder verwendet werden. Die Selbstverpflichtungserklärung von 2001 führt mit anderer Formulierung und einer Schwelle von 250.000 EUR zu derselben Einschränkung, womit das Gros der Fälle bereits zugunsten des Versicherungsnehmers entschieden ist. Was der Versicherer nicht verlangen darf, muss der Versicherungsnehmer auch nicht angeben, so dass eine Anzeigepflicht ausscheidet.
Dennoch ergeben sich sowohl zeitliche als auch betragsmäßige Grauzonen:
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Antragsstellungen vor dem 25.10.2001: es bestand noch keine Selbstverpflichtungserklärung. Selbst wenn daher eine Anzeigepflicht in Betracht käme, werden die Ausschlussfristen des § 21 VVG (5/10 Jahre) greifen, so dass sich dieser Punkt durch Zeitablauf erledigt hat. |
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Antragsstellungen zwischen dem 25.10.2001 und 1.2.2010 (Inkraftreten des GenDG): Sind nicht dem Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft e.V. angehörende Versicherungsunternehmen (Stichwort: ausländische Versicherer) an die Selbstverpflichtungserklärung gebunden? Dies ist zu verneinen, da diese Versicherer keine entsprechende Willenserklärung mit Selbstbindung durch "ihren" Verband abgegeben haben. Folge ist, dass bei diesen Versicherern Anzeigepflichtverletzungen und deren Sanktion möglich sein können. |
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Wertüberschreitungen: Besteht oberhalb der monetären Begrenzungen bei Antragsstellungen zwischen dem 25.10.2001 und 31.12.2011 (250.000 Versicherungssumme/30.000 EUR Jahresrente gemäß Selbstverpflichtungserklärung) und ab dem 1.2.2010 (300.000 Versicherungssumme/30.000 EUR Jahresrente gemäß GenDG) eine Anzeigepflicht? Dies kommt grundsätzlich in Betracht, da die Verbote ersichtlich nur unterhalb der Wertgrenzen gelten sollen. |
In diesen Ausnahmefällen, in denen der Versicherer aus zeitlichen, organisatorischen oder betragsmäßigen Gründen nicht eingeschränkt war oder ist, richtet sich die Frage, ob der Versicherungsnehmer ihm bekannte Untersuchungsergebnisse anzeigen muss, nach folgenden Gesichtspunkten.
II. Gefahrerheblichkeit genetischer Befunde
1. Grundsätze
Offenbarungspflichtig sind nach § 19 Abs. 1 S. 1 VVG/§ 16 VVG a.F. nur gefahrerhebliche Umstände. Ob prädiktive Untersuchungen und dadurch gewonnene Erkenntnisse gefahrerheblich sind, hängt von der Art der drohenden Erkrankung, der jeweiligen Versicherung und der Fragestellung im Antrag ab. Gefahrerheblich sind nach altem und neuem VVG solche Umstände, die geeignet sind, auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu dem vereinbarten Inhalt abzuschließen, einen Einfluss auszuüben. Es muss also Entschlussrelevanz bestehen. Die Beurteilung der vom Versicherungsnehmer anzuzeigenden Umstände ist allein Sache des Versicherers. Die Gefahrerheblichkeit ist immer im Rahmen des jeweiligen Versicherungsvertrags zu beurteilen und richtet sich nach den konkreten Risikoprüfungsgrundsätzen des Versicherers. Eine Erkrankung, die nicht lebensbedrohlich ist, wird bspw. für eine Lebensversicherung nicht gefahrerheblich sein, für eine Krankenversicherung hingegen in der Regel schon.
Tatsächliche Umstände, die kausale Voraussetzung für die spätere Entwicklung eines gefahrerheblichen Umstands sind, aber nicht ausdrücklich abgefragt werden, sind (noch) nicht gefahrerheblich. Konkret hängt die Gefahrerheblichkeit eines genetischen Defekts daher davon ab, ob der bisher nur "schwelende" Defekt bereits die Schwelle zur Gefahrerheblichkeit überschreitet und was der Versicherer im Antragsformular abfragt.