Man mag aus Verteidigersicht trefflich darüber streiten, ob ein Bußgeldsenat, der ständig solche abfälligen Formulierungen veröffentlicht (vgl. schon die "so genannten Gutachten", NStZ-RR 2020, 155, nun die geldgierigen Verteidiger) das richterliche Neutralitätsgebot noch ernst nimmt. Das ist aber letzten Endes Sache der Berufsverbände, hier beim OLG Frankfurt vorstellig zu werden, oder auch Sache der Verteidiger in entsprechenden Verfahren beim zweiten Strafsenat des OLG mit prozessualen Anträgen ihre Bedenken kund zu tun.

Viel wichtiger und aus meiner Sicht auch schlimmer ist der Umstand, dass sich da ein Einzelrichter am OLG herausnehmen zu können glaubt, das Gesetz in seinem Sinne umzuschreiben. Das hat nichts mehr mit richterlicher Rechtsfortbildung zu tun, das ist Willkür. Entbindungsanträge, Sachvortrag im Abwesenheitsverfahren oder auch Entschuldigungsgründe können am Terminstag eingereicht werden, sofern sie nicht verklausuliert bzw. mit Verdeckungsabsicht übersandt werden (dazu die vom OLG zitierten Entscheidungen des OLG Rostock sowie des OLG Bamberg, später dazu auch u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 3.7.2018 – 3 Ss OWi 932/18; OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.2.2020 – (2 B) 53 Ss-OWi 755/19 (299/19); BayObLG zfs 2019, 409; KG, Beschl. v. 27.7.2021 – 3 Ws (B) 194/21). Die Rechtsprechung zur Gehörsrügenfalle ist streng und einzelfallbezogen genug und muss nicht noch um dem Gesetz fremde Komponenten erweitert werden.

Weder die Größe des Gerichts noch die internen Organisationsprobleme können dabei zulasten des Betroffenen gehen (abzulehnen insoweit KG, Beschl. v. 13.3.2020 – 3 Ws (B) 50/20 – zfs 2020, 470, sowie OLG Frankfurt NJW 2021, 1109). Es ist geradezu absurd, dass Oberlandesgerichte bei nunmehr seit 1.1.2022 bestehender anwaltlicher Verpflichtung, zahlreiche Schriftsätze nur noch elektronisch einzureichen, gerade aus der Nutzung des elektronischen Postversands verschärfte Voraussetzungen für die Rechtzeitigkeit des Eingangs konstruieren wollen. Es ist vielmehr allein ein justizinternes Problem, die Gerichte mit Technik und Personal so auszustatten, dass verpflichtende elektronische Eingänge zeitnah erfasst und an die Abteilungen übersandt werden. Ebenso muss der Richter in seiner 15-minütigen Wartefrist Erkundigungen einholen (vgl. KG, Beschl. v. 26.11.2021 – 3 Ws (B) 312/21 – 122 Ss 142/21), wozu dann neuerdings eben auch die Stelle für das elektronische Postfach gehört.

Ein weiteres Problem der Entscheidung liegt in der unpassenden inhaltlichen Begründung. Denn die zitierte Entscheidung des BVerfG (NZV 2021, 41 ff.) hat rein gar nichts mit der Rechtzeitigkeit von Entbindungsanträgen zu tun, sondern befasst sich mit Akteneinsichtsanträgen, mit deren Einordnung der erkennende Senat ja bekanntlich auch so seine Schwierigkeiten hat (vgl. OLG Frankfurt NZV 2020, 524). Das BVerfG hat in seiner Entscheidung, die auch von den OLGs so vertreten wird (vgl. OLG Brandenburg, Beschl. v. 19.2.2021 – 1 OLG 53 Ss-OWi 684/20), lediglich konstatiert, dass dem Akteneinsichtsbegehren nur dann stattzugeben ist, wenn alle drei Voraussetzungen vorliegen (Vorhanden, relevant, frühzeitiger Antrag). Zur Frühzeitigkeit gehört u.a. das Ausschöpfen aller prozessualen Rechtsbehelfe, darunter der Antrag nach § 62 OWiG. Keinesfalls wird in irgendeiner Art definiert, welcher Zeitraum noch frühzeitig oder rechtzeitig ist.

Schließlich ist kennzeichnend für die Hybris der Entscheidung, dass sie der Einzelrichter getroffen hat, jedoch stets davon gesprochen wird, "der Senat" wolle dies ab jetzt so handhaben. Sind die sonstigen Senatsmitglieder also nur noch Staffage? Entscheidungen wie die vorliegende bleiben hoffentlich seltsame Solitäre in einer ansonsten jedenfalls zu dieser Problematik recht homogenen Rechtsprechung.

RAG Dr. Benjamin Krenberger

zfs 2/2022, S. 107 - 109

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