VVG § 188; AUB 2008 Ziff. 9.4.
Leitsatz
Ergibt sich aufgrund eines allein vom VN einer Unfallversicherung initiierten Neubemessungsverlangens eine Verbesserung des Gesundheitszustands gegenüber dem der Erstbemessung zugrunde gelegten Zustand, ist der VR nicht deshalb an einer (teilweisen) Rückforderung der Invaliditätsleistung gehindert, weil er sich bei der Erstbemessung nicht gemäß Ziff. 9.4 AUB 2008 die Neubemessung vorbehalten hatte.
BGH, Urt. v. 2.11.2022 – IV ZR 257/21
1 Sachverhalt
Die Kl. nimmt den Bekl. auf teilweise Rückzahlung einer Invaliditätsleistung in Anspruch. Zwischen den Parteien besteht ein Vertrag über eine private Unfallversicherung. Diesem liegen die AUB 2008 zugrunde. Sie regeln:
9.4 Sie und wir sind berechtigt, den Grad der Invalidität jährlich, längstens bis zu drei Jahren nach dem Unfall … , erneut ärztlich bemessen zu lassen. … Dieses Recht muss
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von uns zusammen mit unserer Erklärung über unsere Leistungspflicht nach Ziffer 9.1, |
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von Ihnen vor Ablauf der Frist |
ausgeübt werden.
Am 17.8.2014 stürzte der Bekl. von seinem Fahrrad und zog sich Verletzungen zu. Die Kl. ging nach Leistungsprüfung von einer Invalidität von 3/10 Beinwert aus. Auf dieser Grundlage erbrachte sie an den Bekl. eine Invaliditätsleistung von 13.356 EUR. In dem Abrechnungsschreiben vom 7.9.2016 heißt es unter anderem:
"Sie können den Grad der Invalidität in der nächsten Zeit noch jährlich überprüfen lassen. Dies gilt nach dem Unfall 3 Jahre lang. Sollte sich der Gesundheitszustand verbessern, können wir die zu viel gezahlte Invaliditätsleistung zurückfordern."
In der Folge beantragte der Bekl. die Neubemessung der Invalidität. Die Kl. kam auf der Basis eines in ihrem Auftrag erstellten Gutachtens vom 21.9.2017 zu dem Ergebnis, dass lediglich eine Invalidität von 1/20 Großzehenwert verblieben sei. Mit Schreiben vom 11.10.2017 rechnete sie auf dieser Grundlage eine Invaliditätsleistung von 159 EUR ab und forderte den überzahlten Betrag zurück.
2 Aus den Gründen:
[9] 1. Zutreffend hat das BG allerdings angenommen, dass der Kl. – vorbehaltlich eines Wegfalls der Bereicherung (§ 818 Abs. 3 BGB) – ein Anspruch auf teilweise Rückzahlung der Invaliditätsleistung zusteht, der durch Ziff. 9.4 AUB 2008 nicht ausgeschlossen ist.
[10] a) Entgegen der Auffassung des BG folgt dieser Anspruch allerdings nicht aus § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB, sondern aus § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB. Ergibt die Neubemessung einen geringeren Invaliditätsgrad als die Erstbemessung, fehlte es hinsichtlich des überzahlten Betrags nicht bereits ursprünglich an einem Rechtsgrund für die Auszahlung der Invaliditätsleistung. Erst durch die Neubemessung ist für die Invalidität nicht mehr auf die – vorliegend nicht angegriffene – Prognose zum Zeitpunkt des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist und damit hier auf den 17.11.2015 abzustellen (vgl. Senat BGHZ 208, 9 Rn 19), sondern auf den Zeitpunkt bis zum Ende des dritten Jahres nach dem Unfall (vgl. Senat VersR 2009, 920 Rn 13 …). Der Rechtsgrund fällt erst nachträglich weg, so dass der Rückzahlungsanspruch aus § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB folgt (vgl. MüKo-VVG/Dörner, 2. Aufl. § 188 Rn 12; Jungermann, r+s 2019, 369, 374, 377 f. …).
[11] b) Anders als die Revision meint, war vorliegend die Neubemessung der Invalidität zu Lasten des Bekl. mit der Folge eines Rückforderungsanspruchs der Kl. nicht deshalb ausgeschlossen, weil sich Letztere im Schreiben vom 7.9.2016 nicht selbst die Neubemessung vorbehalten hatte.
[12] aa) Allerdings ist umstritten, ob der Unfallversicherer bei einer Klauselfassung wie in Ziff. 9.4 AUB 2008 an einer Rückforderung der Invaliditätsleistung gehindert ist, wenn dieser sich bei der Erstbemessung selbst nicht die Neubemessung vorbehalten hat und sich erst aufgrund eines vom VN initiierten Neubemessungsverfahrens ergibt, dass sich dessen Gesundheitszustand im Vergleich zur Erstbemessung verbessert hat.
[13] Teilweise wird vertreten, eine Rückforderung durch den VR sei in diesem Fall ausgeschlossen (OLG Düsseldorf VersR 2019, 87; OLG Frankfurt VersR 2009, 1653 …).
[14] Die überwiegende Auffassung – wie auch das BG – nimmt dagegen für die vorbeschriebene Konstellation an, dass der VR durch eine Ziff. 9.4 AUB 2008 entsprechende Regelung nicht an der anteiligen Rückforderung der Invaliditätsleistung gehindert ist (OLG Brandenburg VersR 2018, 89; OLG Oldenburg r+s 1998, 349; Grimm/Kloth, AUB 6. Aufl. Ziff. 9 Rn 57 …).
[15] bb) Die letztgenannte Ansicht trifft zu. Das ergibt die Auslegung von Ziff. 9.4 AUB 2008.
[16] (1) AVB sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter VN sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, so...