Der BGH gewährt dem Geschädigten unter besonderen Voraussetzungen im Rahmen seines 4-Stufen-Modells das Recht, zu entscheiden, ob er die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs oder die Beschaffung eines Ersatzfahrzeugs vornehmen will, auch wenn die Kosten der Reparatur im Vergleich zu den Kosten der Wiederbeschaffung deutlich höher sind. Nachdem die Ersatzbeschaffung eines vergleichbaren Fahrzeuges zu dem ermittelten Wiederbeschaffungswert oft nicht möglich ist, hat der BGH hierfür eine Ausnahmeregelung getroffen. Der Geschädigte soll durch die 130 %-Regelung die Möglichkeit erhalten, das ihm vertraute Fahrzeug zu behalten, sofern der Schaden einen Betrag von maximal 30 % über dem Wiederbeschaffungswert nicht überschreitet. Eine Reparatur, die den Wiederbeschaffungswert um 30 % übersteigt, wird dem Geschädigten nur dann zugebilligt, wenn er das Fahrzeug sach- und fachgerecht nach Maßgabe des Sachverständigengutachtens instand setzen lässt. Dieser Integritätszuschlag von bis zu 30 % gilt in den Fällen des Haftpflichtschadens auch bei gewerblich genutzten Fahrzeugen. Eine fiktive Abrechnung von Reparaturkosten oberhalb von 100 % des Wiederbeschaffungswerts ist nicht zulässig. Sofern sich der Geschädigte zur weiteren Nutzung des Fahrzeugs ohne vollständige fachgerechte Reparatur entscheidet, kommt lediglich eine Abrechnung nach dem Wiederbeschaffungsaufwand in Betracht. Im 130 %-Fall ist neben der sach- und fachgerechten Reparatur nach den Vorgaben des Sachverständigen Voraussetzung, dass der Geschädigte das Fahrzeug über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten nach der Reparatur weiter nutzt. Gerade hierdurch bringt der Geschädigte sein Integritätsinteresse zum Ausdruck. Sonderkonstellationen sind hierbei jedoch denkbar. Eine weitere Einschränkung ist nach dem BGH auch dann gerechtfertigt, wenn der Grund für die Unterschreitung der 130 %-Grenze ein Rabatt der Reparaturwerkstatt ist, für den kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich ist.
Nicht selten stellt sich der Sachbearbeiter der Versicherung auf den Standpunkt, dass die Reparaturrechnung im 130 %- Fall erst nach Ablauf der Haltefrist von sechs Monaten zu erstatten sei. Diese Auffassung ist jedoch unzutreffend. Eine Erwiderung der entsprechenden Abrechnung der Versicherung kann wie folgt erfolgen:
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wir nehmen noch einmal Bezug auf Ihr Schreiben vom … In diesem Schreiben verweigern Sie die Auszahlung der restlichen Reparaturkosten mit dem Hinweis, dass eine Weiternutzung des reparierten Fahrzeugs mindestens sechs Monate andauern müsse und stellen sich dabei auf den Standpunkt, dass die Reparaturrechnung erst nach Ablauf dieser Frist von sechs Monaten auszugleichen sei. Dies ist jedoch unzutreffend.
Dieser nicht zu akzeptierenden Regulierungspraxis hat der BGH bereits im Jahr 2008 eine Abfuhr erteilt. Mit Beschl. v. 18.11.2008 (VI ZB 22/08) hat der BGH ausgeführt, dass in den Fällen der Reparatur im Rahmen der 130 %-Grenze die Reparaturkosten sofort fällig sind.
Der BGH weist darauf hin, dass ein Geschädigter durch den Schädiger in die Lage versetzt werden muss, die vollständige Wiederherstellung des früheren Zustandes zu erreichen. Würde es dabei verbleiben, dass der Geschädigte die Reparaturkosten über sechs Monate vorfinanzieren muss, dann wäre die Reparatur im Rahmen der 130 %-Grenze faktisch ausgeschlossen. Durch die Entscheidung, das Fahrzeug reparieren zu lassen, macht der Geschädigte seinen Nutzungswillen deutlich. Dem Versicherer steht es frei, die sofortige Zahlung unter Rückforderungsvorbehalt zu setzen, falls das Fahrzeug vor Ablauf von sechs Monaten von dem Geschädigten veräußert wird.
Gerne weisen wir nach sechs Monaten nach, dass das Fahrzeug weiter von unserem Mandanten genutzt wird.
Wir bleiben daher bei der Aufforderung die gesamte Reparaturrechnung bis zum … zu begleichen.
Autor: Tamás Ignácz
RA Tamás Ignácz, FA für Verkehrsrecht und Vergaberecht, Rostock
zfs 2/2023, S. 63