VVG § 192 Abs. 5 S. 2 § 208; MuSchG § 3; MBKT § 1a
Leitsatz
1. Die Vereinbarung einer Karenzfrist für die Zahlung von Krankentagegeld während der Mutterschutzfristen ist unwirksam.
2. Zur intertemporalen Wirkung einer Gesetzesänderung bei Fehlen einer Übergangsregelung.
(Leitsätze der Schriftleitung)
LG Ravensburg, Urt. v. 24.2.2022 – 1 S 117/21
1 Sachverhalt
Die Kl. begehrt für die vertraglich vereinbarte Karenzzeit die Zahlung von Krankentagegeld.
Beginnend zum 1.10.2018 haben die Parteien einen privaten Krankenversicherungsvertrag abgeschlossen. Nach dem vereinbarten Tarif "ETF21" hat die Kl. Anspruch auf Zahlung eines Krankentagegeldes von 150 EUR pro Kalendertag.
Gemäß § 1a der RB/KT ist ein Versicherungsfall auch der Verdienstausfall der weiblichen Versicherten, der während der Schutzfrist nach § 3 Abs. 1 und 2 des Mutterschutzgesetzes sowie am Entbindungstag entsteht, wenn die Versicherte in diesem Zeitpunkt nicht oder nur eingeschränkt beruflich tätig ist. Der VR zahlt für die Dauer dieser Schutzfristen und am Entbindungstag ein Krankentagegeld im vertraglichen Umfang. Gemäß Ziffer 2. 1 und Ziffer 2. 7 der Tarifbestimmungen des Tarifs "ETF21" wird Krankentagegeld während der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz erst nach Ablauf einer Karenzzeit von 21 Tagen bezahlt.
Am 12.2.2021 ist der Sohn der Kl. zur Welt gekommen. Mit Schreiben vom 19.1.2021 hat die Bekl. sich grundsätzlich leistungsbereit erklärt. Mit Ablauf der vertraglichen Karenzzeit, folglich ab dem 15.1.2021, hat die Bekl. die vertraglich vereinbarten Leistungen erbracht.
2 Aus den Gründen:
II, Die zulässige Berufung ist begründet.
1. Die Kl. hat gegen die Bekl. einen Anspruch auf Zahlung von Krankentagegeld für weitere 21 Tage zu je 150 EUR i.H.v. 3.150 EUR gem. § 1 VVG, § 1a Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 der Rahmenbedingungen 2009 (RB/KT 2009) i.V.m. Ziff. 2.1 und 2.7 des Tarifs für Freiberufler "ETF21".
1.1 Gem. § 1 VVG ist der VR verpflichtet, bei Eintritt des Versicherungsfalles die vertraglich vereinbarte Versicherungsleistung zu erbringen. Ein Versicherungsfall liegt gem. § 1a Abs. 1 S. 1 der zwischen den Parteien vereinbarten Rahmenbedingungen 2009 (RB/KT 2009) und Ziff. 2.7 des vereinbarten "Tarifs ETF21" insbesondere dann vor, wenn während der Schutzfrist nach § 3 Abs. 1 und 2 des MuSchG sowie am Entbindungstag ein Verdienstausfall entsteht und der VN in diesem Zeitraum nicht oder nur eingeschränkt beruflich tätig ist. Gem. § 1a Abs. 2 S. 2 RB/KT 2009 zahlt der VR für die Dauer dieser Schutzfristen und am Entbindungstag ein Krankentagegeld in vertraglichem Umfang. Gem. Ziff. 2.7 S. 2 i.V.m. Ziff. 2.1 der Tarifbestimmungen des
Tarifs "ETF21" wird das Krankentagegeld allerdings erst nach Ablauf einer Karenzzeit von 21 Tagen gezahlt.
1.2 Die in Ziff. 2.7 i.V.m. Ziff. 2.1 vereinbarte Karenzzeit hält einer Inhaltskontrolle gem. § 307 BGB mit der Unwirksamkeitsfolge des § 306 Abs. 1 BGB nicht stand.
Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, wenn ein VR, wie vorliegend, in Muster- oder Rahmenbedingungen auf bestimmte zu erfüllende Anforderungen aus einem Tarif verweist (vgl. Prölls/Martin, VVG, 31. Auflage, § 2 MB/KT Rn 3, § 4 Rn 1).
Die Tarifklausel unterliegt der Inhaltskontrolle nach § 307 BGB (BGH r+s 2008, 201). Hiernach sind Bestimmungen in AVB unwirksam, wenn sie den VN entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Die Bestimmung in Ziff. 2.7 i.V.m. Ziff. 2.1. der Tarifbestimmungen des Tarifs "ETF21" ist wegen Verstoßes gegen §§ 192 Abs. 5 S. 2, 208 VVG unwirksam.
Gem. § 208 VVG kann von § 192 Abs. 5 S. 2 VVG nicht zum Nachteil des VN abgewichen werden. Gem. § 192 Abs. 5 S. 2 VVG ist bei einem Krankentagegeldversicherungsvertrag der VR verpflichtet, den Verdienstausfall, der während der Schutzfristen nach § 3 Abs. 1 und 2 des Mutterschutzgesetzes sowie am Entbindungstag entsteht, durch das vereinbarte Krankentagegeld zu ersetzen, soweit dem VN kein anderweitiger Ersatz für den während dieser Zeit verursachten Verdienstausfall zusteht. Der Begriff des "vereinbarten" Krankentagegeldes ist unter Berücksichtigung des aus den Gesetzesmaterialien eindeutig hervorgehenden Willens des Gesetzgebers dahingehend auszulegen, dass damit ausschließlich die Höhe der vertraglich vereinbarten Leistungen gemeint ist.
Beginn und Ende der Leistungsverpflichtung des VR können zu Ungunsten des VN demzufolge nicht vertraglich abgeändert werden. Der Gesetzgeber bezweckte mit dem zum 11.4.2017 in das VVG eingefügten § 192 Abs. 5 S. 2 VVG die Möglichkeit einer Angleichung der finanziellen Absicherung von privat krankenversicherten selbstständig erwerbstätigen Frauen mit den gesetzlich versicherten abhängig Beschäftigten. Zuvor hatten privat kranken...