BGB §§ 254 Abs. 1, 827 S. 1
1. Zur Annahme höherer Gewalt i.S.d. § 1 Abs. 2 HaftpflG, wenn sich eine möglicherweise in der Steuerungsfähigkeit beeinträchtigte Person auf die Bahngleise begibt und von einem Zug erfasst wird.
2. Zu entsprechender Anwendung des § 827 S. 1 BGB im Rahmen des § 254 Abs. 1 BGB.
Schleswig-Holsteinisches OLG, Urt. v. 4.7.2008 – 1 U 50/07
Die Kläger machen Ansprüche aus einem Bahnunfall geltend. Sie verlangen materiellen Schadensersatz sowie Feststellung dahingehend, dass die Beklagten als Gesamtschuldner gegenüber den Klägern verpflichtet sind, sämtlichen Unterhaltsschaden zu ersetzen, der ihnen durch den Tod der am 15.10.2005 gegen 10.12 Uhr auf den Gleisen der Bahnstrecke Hamburg – Elmshorn in Höhe Elmshorn verstorbenen Ehefrau und Mutter entstanden ist und entstehen wird.
Die Ehefrau und Mutter der Kläger war am Abend des 14.10.2005 wegen psychischer Auffälligkeiten in das Klinikum Elmshorn verbracht worden. Dort verblieb die Verstorbene bis zum nächsten Morgen. Nach dem Bericht des Krankenhauses Elmshorn vom 17.10.2005 war die Verstorbene gegen 4.00 Uhr nachts wegen Unruhe erwacht. Nach einer weiteren Medikation (1 mg Tavor Expidet) war sie wieder eingeschlafen. Am nächsten Morgen nahm die Verstorbene am Frühstück teil. Gegen 10.00 Uhr morgens war sie auf der Station nicht mehr gesehen worden. Die Verstorbene hatte das Krankenhaus verlassen und war in Richtung der Gleisanlagen in der Nähe des Bahnhofes Elmshorn gelaufen. Gegen 10.10 Uhr war sie durch das die Gleisanlagen begrenzende Gebüsch geklettert und auf die Gleisanlagen gelaufen. Trotz zweimaligen Signalgebens durch den Triebwagenführer, den Beklagten zu 2), reagierte die Verstorbene nicht, sondern lief geradeaus auf die Gleise des herannahenden Zuges der Beklagten zu 1). Sie wurde von dem Zug erfasst und getötet.
Die Kläger haben behauptet, die Verstorbene sei wegen ihrer psychischen Disposition und möglicherweise wegen der Medikation orientierungslos gewesen. Sie habe insbesondere keine Suizidabsichten gehabt. Sie sind der Auffassung, die Beklagte zu 1) hafte gem. § 1 HPflG und wegen § 831 BGB, den Beklagten zu 2) treffe an dem Unfall ein Verschulden, weil er mit einer Notbremsung habe früher reagieren müssen.
Die Beklagten sind der Klage entgegengetreten. Sie haben behauptet, die Getötete sei in gezielter Selbsttötungsabsicht auf die Gleise gelaufen. Dies stelle höhere Gewalt dar, zumindest bedeute es ein derart überwiegendes Verschulden, dass die Betriebsgefahr der Beklagten zu 1) vollständig zurücktrete. Ein Verschulden treffen den Beklagten zu 2) nicht, da er ordnungsgemäß mit zwei Achtungspfiffen sowie der sofort eingeleiteten Schnellbremsung reagiert habe. Auf Grund des technisch bedingten Bremsweges sei der Zusammenstoß nicht zu vermeiden gewesen.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger hatte z.T. Erfolg.
Aus den Gründen:
“I. Die Kläger haben einen Anspruch gegen die Beklagte zu 1) aus § 1 Abs. 1 HPflG. Danach ist der Betriebsunternehmer zum Ersatz des Schadens verpflichtet, der dadurch entsteht, dass bei dem Betrieb einer Schienenbahn ein Mensch getötet wird. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
1. Die Ehefrau und Mutter der Kläger wurde am 15.10.2005 gegen 10.12 Uhr von dem fahrenden Regionalexpress der Beklagten zu 1) erfasst und getötet.
2. Die Haftung der Beklagten zu 1) ist auch nicht gem. § 1 Abs. 2 HPflG ausgeschlossen. Danach ist die Haftung ausgeschlossen, wenn es sich bei dem Ereignis um höhere Gewalt gehandelt hat. Das ist indes nicht der Fall. Höhere Gewalt ist ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer hinzunehmen ist (Filthaut, 7. Aufl., § 1 Rn 158 m.w.N.). Die bewusste Selbstschädigung durch den Getöteten ist einem gewaltsamen elementaren Ereignis gleichzustellen (Filthaut, a.a.O., Rn 169; OLG Hamm NJW-RR 2005, 393; OLG München VersR 1992, 61). Die Beweislast für die Schädigungsabsicht liegt beim Betriebsunternehmer; ein bloßer Verdacht reicht nicht aus (Filthaut, a.a.O.).
Die Beklagte zu 1) hat eine Selbsttötung der Ehefrau und Mutter der Kläger zwar behauptet. Sie konnte eine solche aber nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht beweisen.
Es liegen hier keine eindeutigen Umstände vor, die auf eine Selbsttötungsabsicht der Getöteten hinweisen. Weder hat sie zuvor Selbsttötungsabsichten geäußert noch einen Abschiedsbrief hinterlassen. Auch die Tatsache, dass die Getötete, ohne auf die Warn- und Bremsgeräusche des Zuges zu reagieren, geradeaus über die Gleisanlagen gelaufen ist, ist kein zwingender Hinweis auf eine Selbsttötungsabsicht. Vorliegend könnte eine solche Verhaltensweise auch dadurch zu erklären sein, dass sich die Getötete in ei...