1) Die in den Rn 8–10 der Entscheidung dargestellte Kombination von Freizeichnung des Fahrers von Haftung für Sturzfolgen von Fahrgästen und Auferlegung von Eigensicherungsobliegenheiten der Fahrgäste wirft die Frage nach den Grenzen dieser gerade für den behinderten Fahrgast äußerst nachteiligen (Eigen-)Haftung auf. Die in § 7 BOKraft statuierte Pflicht des Fahrpersonals gegenüber Fahrgästen zur besonderen Sorgfalt bei der Beförderung dürfte die Formulierung eines allgemeinen Rechtsgedankens sein (vgl. Filthaut NZV 2000, 13), gibt aber für die besondere Situation bei Einstieg und Fahrtantritt nichts her. Aufschlussreich ist es allerdings, dass in der Rspr. ein sorgfaltswidriges Verhalten darin gesehen worden ist, dass ein Fahrer mit einem unnötig scharfen Ruck angefahren ist (vgl. OLG Düsseldorf VKBl. 1995, 228; OLG Köln VRS 71, 96; OLG Karlsruhe VRS 54, 123). Die besondere Situation nach dem Einsteigen des Fahrgastes und seiner Suche ohne Hilfe des Fahrers nach einem festen Halt trifft das nur teilweise.
2) Ansatzpunkt für eine Zubilligung von Schadensersatzansprüchen des sturzverletzten behinderten Fahrgastes wegen fehlender zum Sturz des Fahrgastes führender Hilfe des Fahrers bei der Suche nach einem sicheren Stand kann – ausnahmsweise – eine erkennbare auf der Behinderung beruhende Unfähigkeit des Fahrgastes sein, sich bis zur Anfahrt des Busses einen festen Halt zu verschaffen. Gezielt beobachten muss der Fahrer einsteigende Personen nicht; weiterhin muss sich dem Fahrer diese Gefahr für den Fahrgast aufdrängen. Eine solche Gefährdung kann der Fahrer nicht annehmen, wenn der Fahrgast ohne Mühe den Bus durchschritten hat (so in dem von dem OLG Hamm entschiedenen Fall in NJW-RR 2018, 786, 787).
Einen Ausweg aus dieser für den gebrechlichen Fahrgast gefährlichen Situation bietet die von Filthaut aufgezeigte Möglichkeit (NZV 2011, 220): Filthaut empfiehlt behinderten Fahrgästen, beim Einsteigen den Fahrer zu bitten, ihm bei der Suche nach einem Sitzplatz behilflich zu sein. Ein Sitzplatz würde einen Schutz vor Stürzen bieten. Voraussetzung dafür ist, dass der Behinderte in den vorderen Teil des Busses oder der Straßenbahn in der Nähe des Fahrers einsteigen kann. Gelingt ihm das nicht, muss der Behinderte hoffen, dass ihm ein Fahrgast seinen Sitzplatz anbietet. Wenig Hoffnung auf Aufmerksamkeit und Hilfe des Fahrers besteht für den Behinderten, dass ihm der bereits nach dem Vorweisen des Behindertenausweises, der zur kostenlosen Beförderung berechtigt, spontan Hilfe bei der Suche nach einem Sitzplatz anbietet. Dazu steht dem Fahrer kaum ausreichende Zeit zur Verfügung. Nach der Umgestaltung von Bussen und Straßenbahnen zum Einmannbetrieb hat der Fahrer die Funktion von Schaffner und Fahrdienstleister übernommen und kann sich deshalb kaum um die gefährdeten Fahrgäste kümmern.
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 3/2019, S. 138 - 141