OWiG § 67 Abs. 1 § 70 Abs. 1; LV RP Art. 77 Abs. 2 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 124
Leitsatz
Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle der Anforderungen an den Nachweis einer Vollmacht zur Einlegung eines Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid.
VerfGH Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 28.1.2021 – VGH B 71/20
Sachverhalt
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen zwei in einem Bußgeldverfahren ergangene gerichtliche Entscheidungen. In der Sache betrifft sie die Frage, welche Anforderungen an den Nachweis einer Vollmacht zur Einlegung eines Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid zu stellen sind. Der Beschwerdeführer wurde im Oktober 2019 als Betr. in einem Bußgeldverfahren wegen einer ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsüberschreitung angehört. Sein Bevollmächtigter wandte sich im November 2019 mit einem Schreiben an die Verwaltungsbehörde, in dem er in der Betreffzeile das Aktenzeichen und den Namen des Beschwerdeführers angab, im Fließtext aufgrund eines Versehens allerdings die Vertretung einer näher bezeichneten Firma anzeigte. Wenige Tage später legte der Bevollmächtigte mit weiterem Schreiben – nunmehr ausschließlich namens des Beschwerdeführers – Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Bußgeldbescheid ein und erhielt auf seinen Antrag hin Akteneinsicht. Nach Abgabe des Verfahrens an das AG bestimmte dieses den Hauptverhandlungstermin zunächst auf Mitte April 2020, verlegte diesen sodann auf Juni 2020 und zuletzt auf Anfang August 2020. Auf schriftlichen Antrag seines Bevollmächtigten wurde der Beschwerdeführer von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden. Im Juni 2020 wies das AG darauf hin, dass der Einspruch von November 2019 nach vorläufiger Einschätzung nicht wirksam eingelegt worden sei, da trotz wiederholter Aufforderung keine Verteidigervollmacht vorgelegt worden sei. Daraufhin reichte der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers eine auf den 30.5.2020 datierte und unterschriebene Vollmachtsurkunde zu den Gerichtsakten.
Mit Beschl. v. 28.7.2020 verwarf das AG den Einspruch gegen den Bußgeldbescheid als unzulässig. Zwar sei das Einspruchsschreiben des Verteidigers grds. fristwahrend bei der zuständigen Bußgeldbehörde eingegangen. Es genüge jedoch nicht den Anforderungen an einen wirksamen Einspruch. Hierfür sei erforderlich, dass die Vollmacht bereits zum Zeitpunkt der Einlegung des Rechtsmittels erteilt worden und dies auch nachgewiesen sei. Daran fehle es. Die am 27.6.2020 eingereichte Vollmacht sei ersichtlich erst am 30.5.2020 unterzeichnet worden. Dieser Zeitpunkt liege jedoch deutlich nach dem Zeitpunkt der Einspruchseinlegung. Auf die sofortige Beschwerde bestätigte das LG die Entscheidung des AG.
Die gegen die beiden gerichtlichen Entscheidungen erhobene Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… B. Die Verfassungsbeschwerde, über die der VGH gem. § 49 Abs. 1 VerfGHG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet."
I. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
1. Die fristgemäß erhobene Verfassungsbeschwerde ist statthaft. Insbesondere steht ihr die Bundesrechtsklausel des § 44 Abs. 2 S. 1 VerfGHG nicht entgegen, da die vom Beschwerdeführer gerügte Nichtanerkennung der Vollmacht seitens des AG die der Sachentscheidung vorgelagerte Durchführung des gerichtlichen Verfahrens i.S.v. § 44 Abs. 2 S. 2 VerfGHG betrifft (vgl. ausf. VerfGH RP, Beschl. v. 19.11.2019 – VGH B 10/19, AS 47, 299 [305 f.]; Urt. v. 15.1.2020 – VGH B 19/19, AS 47, 350 [356 f.]; Jutzi, in: Brocker/Droege/Jutzi [Hrsg.], Verfassung für Rheinland-Pfalz, 2014, Art. 130a Rn 28 ff.).
2. Die Verfassungsbeschwerde wahrt auch das Gebot der Rechtswegerschöpfung (§ 44 Abs. 3 S. 1 VerfGHG). Zwar hat der Beschwerdeführer, der auch eine Verletzung rechtlichen Gehörs rügt, keine Anhörungsrüge gegen den Beschl. des LG Koblenz v. 3.9.2020 erhoben. Die Erhebung einer Anhörungsrüge ist nach ständiger verfassungsgerichtlicher Rspr. allerdings dann entbehrlich, wenn sie von vornherein aussichtslos und damit unzumutbar wäre (vgl. VerfGH RP, Beschl. v. 17.2.2017 – VGH B 26/16, AS 45, 225 [226]; Urt. v. 15.1.2020 – VGH B 19/19, AS 47, 350 [358]; BVerfG, Kammerbeschl. v. 24.7.2019 – 2 BvR 686/19, juris Rn 26; SächsVerfGH, Beschl. v. 31.5.2016 – Vf. 12-IV-16, juris Rn 9; VerfGH NRW, Beschl. v. 13.8.2019 – 12/19.VB-2, juris Rn 6; und v. 25.8.2020 – 73/19.VB-2, juris Rn 10; BayVerfGH, Entscheidung v. 8.7.2020 – Vf. 93- VI-19, juris Rn 25). Von vornherein aussichtslos ist ein Rechtsbehelf, wenn er offensichtlich unstatthaft oder unzulässig ist. Dies ist unter anderem der Fall, wenn mit der Anhörungsrüge lediglich ein durch das Rechtsmittelgericht nicht geheilter, sondern fortwirkender (“perpetuierter') Gehörsverstoß beklagt wird (vgl. VerfGH RP, Urt. v. 15.1.2020 – VGH B 19/19, AS 47, 350 [358]; BVerfG, Kammerbeschl. v. 5.5.2008 – 1 BvR 562/08, NJW 2008, 2635 [2636]; v. 14.12.2018 – 2 BvR 1594/17, juris Rn 15; Lenz/Hansel, BVerfGG, 3. Aufl. 2020, § 90 Rn 371 m.w.N.). Von einem solchen Fall ist vorliegend auszugehen. Der Beschwerdeführer m...