Zugegeben, ich gehöre der Generation "Telefonzelle" an und hadere durchaus mit den Errungenschaften der Digitalisierung. Dabei weiß ich die Vorteile einer schnellen und einfachen digitalen Übertragung von Dokumenten, deren Speicherung und die unendliche Informationsmöglichkeiten im Netz zu schätzen. Selbst beA sollte inzwischen für die meisten Kolleginnen und Kollegen kein Schreckgespenst mehr sein.
Nun hat Corona nach wie vor die Welt im Griff. Und leider sind auch nach wie vor nicht wenige Branchen mit einem Berufsausübungsverbot belegt. Da bleibt als Lösung nur die digitale Welt übrig. Allerdings wirkt vieles eher notgedrungen rührig, meistens aber verzweifelt. Da schlagen die weltweit digitalen Großkonzerne, die vom online-Geschäft in der Coronakrise kolossal profitieren, schon anders zu.
Und plötzlich merkt man gerade durch die Pandemie, dass Einkaufen, Konzerte besuchen und auch Feiern mit anderen Menschen so viel mehr ist, als der bloße Akt als solcher, den man eben auch virtuell herstellen könnte. Selbst die Schülergeneration, die ja komplett in der Welt von Instagram und Snapchat zu Hause ist, sehnt sich nach "echter" Schule – das will was heißen.
Und in der Justiz? Es heißt, die digitale Rechtsprechung soll vorangetrieben werden. Und tatsächlich wird ein immer dichteres Netz von Videoverhandlungen in allen Teilen der Gerichtsbarkeit geknüpft. Beim Finanzgericht wird wohl fast ausschließlich per Videokonferenz verhandelt. Viele Kolleginnen und Kollegen beschweren sich im persönlichen Gespräch darüber, dass bestimmte Richter sich hartnäckig weigern, digital zu verhandeln. Man müsse, so heißt es oft, doch nicht extra wegen so einer Verhandlung zum Gericht fahren.
Aber ist Rechtsprechung aufgrund einer mündlichen Verhandlung nicht eben auch mehr als nur der bloße Akt über den Bildschirm einen Antrag zu stellen?
Verhandlungen, die ich "online" erlebt habe, haben mich nicht überzeugt. Das ist zugegebenermaßen meine subjektive Einschätzung. Mir ist aufgefallen, dass sich die Beteiligten in einer gewissen Weise anders verhalten, als wenn sie sich vor Ort vis-à-vis gegenüber sitzen. Ich habe Zeugen erlebt, die in Internet-Cafés in Spanien saßen und deren Leitung zufällig immer bei kritischen Fragen zusammengebrochen ist. Neulich in einer Verhandlung wollte ich nicht in der Haut der Kollegin stecken: In einem Unfallprozess war das digitale persönliche Erscheinen der Partei angeordnet worden. Und diese Partei redete über den Bildschirm die Klageerwiderung in Grund und Bogen. Keine Möglichkeit der verzweifelt dreinschauenden Kollegin mit einem kurzen Tritt ans Schienbein den Äußerungen der eben nicht neben ihr sitzenden Partei Einhalt zu gebieten. Was ist, wenn das Gericht Hinweise gibt oder einen Vergleich unterbreitet, was mit der Partei in einer Verhandlungspause kurz besprochen werden müsste? Wie kann eine wahrhaftige Beweiswürdigung erfolgen, wenn man Zeugen nur in Fischaugenoptik am Bildschirm sieht, jedoch die Körpersprache nicht erkennen kann und nicht weiß, wer eigentlich noch im Raum ist und die Aussage beeinflusst? Und so ganz nebenbei stellt sich die Frage nach der Einhaltung des Filmverbotes nach § 169 GVG. Das Gericht kann nicht kontrollieren, ob die Verhandlung von den Beteiligten aufgezeichnet wird. Unkontrollierbar ist auch, ob die Verteilungsserver nicht doch "mitschauen" und abspeichern können. Das gilt vor allem, wenn sich Zeugen, Parteien und auch beteiligte Anwälte unterwegs im Zug mittels Handy einwählen. Alles schon erlebt.
Gerichtsverhandlungen sind auch eine Theaterbühne, die nicht einfach durch die 2D-Welt ersetzt werden kann. Gerade für Zeugen und Parteien, aber auch für mich mit fast dreißig Jahren Berufserfahrung, ist das Erleben einer Gerichtsverhandlung in einem meist architektonisch mächtigen Gerichtsgebäude immer noch etwas "Großes". Und deshalb freue ich mich wieder auf die nächste 3D-Verhandlung.
Autor: Andreas Krämer
RA Andreas Krämer, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht, Frankfurt a.M.
zfs 3/2021, S. 121