In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass auch psychische Störungen eine Gesundheitsverletzung i.S. des § 823 Abs. 1 BGB darstellen können, wenn sie Krankheitswert haben (Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023 § 823 Rn. 4 m. zahlr. N.). Im Bereich der sog. "Schockschäden" hatte der BGH diese Definition bislang aber einer gewissen Einschränkung unterworfen. Seelische Erschütterungen wie Trauer und seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, sollten auch dann nicht als Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB gelten, wenn sie von Störungen der psychischen Abläufe begleitet wurden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant waren. Die Anerkennung solcher Beeinträchtigungen als Gesundheitsverletzung widerspräche der Absicht des Gesetzgebers, die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den Schutzgütern als auch nach den durch sie gesetzten Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken und Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines Rechtsgutes bei einem Dritten zurückzuführen sind, mit Ausnahme der §§ 844, 845 BGB, ersatzlos zu lassen. Psychische Beeinträchtigungen könnten in diesen Fällen deshalb nur dann als Gesundheitsverletzung i.S. des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar seien und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgingen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt seien (BGH Urt. v. 21.5.2019 – VI ZR 299/17, BGHZ 222, 125, juris Rn 7 m.w.N.). Diese – schon länger kritisierte – Einschränkung hat der BGH nun fallen gelassen. Auch im Falle eines sog. Schockschadens ist für die Rechtsgutsverletzung in Zukunft allein entscheidend, ob die durch das Unfallereignis ausgelösten psychischen Folgen Krankheitswert besitzen. Die Rechtsprechungsänderung schafft nicht nur dogmatische Klarheit, sondern verhindert auch Wertungswidersprüche.
Das Ziel der bisherigen Rechtsprechung, eine Ausuferung der Haftung zu vermeiden, lässt sich, wie der BGH nunmehr ausdrücklich feststellt, auch auf anderem Wege erreichen. Zunächst ist die Kausalität einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Ist die psychische Gesundheitsbeeinträchtigung tatsächlich aufgrund des Unfallereignisses eingetreten? Hier genügt zwar eine mittelbare Verursachung – der Pflichtverstoß des Schädigers hat zunächst die Verletzung des Unfallopfers verursacht, erst diese den Schockschaden bei dessen Angehörigen ausgelöst –, jedoch gilt auch für diesen erweiterten Kausalzusammenhang der strenge Beweismaßstab des § 286 ZPO. Denkbare und mögliche Alterativursachen stehen der Feststellung des notwendigen mittelbaren Kausalzusammenhangs damit regelmäßig entgegen.
Überdies ist der Zurechnungszusammenhang kritisch zu prüfen. Es entspricht gerade nicht dem Schutzzweck der Norm, jedem mittelbar Geschädigten einen Anspruch zuzubilligen. Vielmehr bedarf es eines persönlichen Näheverhältnisses, das nur bei naher Verwandtschaft und vergleichbar engen Verbindungen (Verlobte, Lebensgefährten) gegeben ist (Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, Vorb. v.§ 249 Rn 40 m.w.N.). Mittels der Schutzzwecklehre lassen sich auch vorübergehende Beeinträchtigungen, soweit diesen überhaupt Krankheitswert zukommt, als Haftungsgrund ausscheiden (Stichwort: Bagatellverletzungen, vgl. BGH Urt. v. 30.4.1996 – VI ZR 55/95, BGHZ 132, 341); ebenso, das deutet der BGH jedenfalls an, Überreaktionen, also psychische Reaktionen auf das Schadensereignis, die völlig außer Verhältnis zu dem Unfallereignis selbst oder zu dem eingetretenen Schaden stehen. Die Rechtsprechung hat dies in der Vergangenheit etwa angenommen, wenn der geltend gemachte Schockschaden durch den Eintritt eines unbedeutenden Sachschadens (LG Hildesheim Urt. v. 25.10.1968 – 7 S 208/68, VersR 1970, 720), den Tod eines Hundes (AG Essen JurBüro 1986, 1496) oder polizeiliche Ermittlungen wegen falscher Verdächtigung (LG Hamburg Urt. v. 27.11.1968 – 17 S 158/68, NJW 1969, 615) ausgelöst war (vgl. auch Grüneberg, BGB, 82. Aufl. 2023, Vorb. v. § 249 Rn 40 m.w.N.). Zu beachten ist, dass eine besondere Schadensanfälligkeit auch des mittelbar Geschädigten den Anspruch nicht hindert, sie ist aber für die Bemessung des Schmerzensgeldes von Bedeutung (Rn 32).
Im Ergebnis vereinfacht die Entscheidung des BGH die Prüfung der Frage, ob ein Angehöriger wegen der psychischen Beeinträchtigungen, die der Unfall eines nahe stehenden Menschen bei ihm ausgelöst hat, seinerseits einen eigenen Schadensersatzanspruch aus § 823 I BGB hat. Sie ist daher nicht nur aus dogmatischen, sondern auch aus praktischen Erwägungen zu begrüßen.
RA Dr. Hans-Joseph Scholten, VRiOLG a.D.
zfs 3/2023, S. 136 - 142