StPO § 24
Leitsatz
Nimmt ein Richter zwischen zwei Sitzungstagen die Örtlichkeit einer Geschwindigkeitsmessung in Augenschein und befragt die zufällig dort anwesenden Messbeamten des Verfahrens zum Standort des Messgerätes, lässt diese Verhaltensweise den Schluss zu, der Richter halte eine solche Ortsbesichtigung/Befragung von Zeugen im Rahmen seiner Aufklärungspflicht für seine Entscheidungsfindung für erforderlich, und begründet die Ablehnung des Richters. (Leitsatz der Redaktion)
AG Schwerin, Beschl. v. 25.10.2023 – 35 OWi 295/23
1 Sachverhalt
Das AG hat die Ablehnung des Richters B. für begründet erklärt.
2 Aus den Gründen:
Der Befangenheitsantrag gegen den abgelehnten Richter vom 11.10.2023 ist zulässig, insbesondere unverzüglich gem. §§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. 25 Abs. 2 StPO gestellt.
Zwar hat der Verteidiger des Betroffenen das Ablehnungsgesuch nicht unmittelbar nach dem Hinweis des abgelehnten Richters im Hauptverhandlungstermin am 11.10.2023, dass er sich am Vortag zur Vorbereitung auf die Hauptverhandlung zur Messstelle begeben, ein Foto von der Messstelle gefertigt und von den zufällig dort anwesenden Messbeamten H. und E. den genauen Aufstellungsort des Messgerätes erfahren habe, sondern erst nach Durchführung der zeugenschaftlichen Vernehmung der Zeugen E. und H. sowie Inaugenscheinnahme des vom abgelehnten Richter am Vorabend von der Messstelle gefertigten Fotos gestellt. Gleichwohl geht das Gericht von der Rechtzeitigkeit des Antrags aus, da dieser noch innerhalb des Hauptverhandlungstermins am 11.10.2023 unmittelbar nach Erörterung der Sach- und Rechtslage gestellt worden ist, zu einem Zeitpunkt, als, wie sich aus der Erklärung des Verteidigers vom 17.10.2023 zur Stellungnahme des abgelehnten Richters vom 11.10.2023 ergibt, gerade mit Blick auf die Erklärungen des Zeugen E. zur Messskizze und den "neuen" örtlichen Gegebenheiten – jedenfalls für diesen – Zweifel an einem Tatnachweis ergeben hatten.
Der Ablehnungsantrag ist auch begründet.
Das Vorliegen eines Ablehnungsgrundes gem. § 24 Abs. 1 und 2 StPO ist grundsätzlich vom Standpunkt eines vernünftigen bzw. verständigen Ablehnenden aus zu beurteilen, ohne dass es darauf ankommt, ob der Richter tatsächlich parteiisch oder befangen ist. Solcherlei ist anzunehmen, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann. Dass dies vorliegend anzunehmen ist, ergibt sich aus Folgendem:
Der abgelehnte Richter hat hier zwischen zwei Sitzungstagen die Örtlichkeit einer Geschwindigkeitsmessung in Augenschein genommen und die zufällig dort anwesenden Zeugen des Verfahrens E. und H. (jedenfalls) zum Standort des Messgerätes befragt. Diese Verhaltensweise lässt den Schluss zu, der abgelehnte Richter halte eine solche Ortsbesichtigung/Befragung von Zeugen im Rahmen seiner Aufklärungspflicht für seine Entscheidungsfindung für erforderlich. In einem solchen Fall, gleich ob innerhalb oder außerhalb der Hauptverhandlung, wäre es strafprozessual jedoch erforderlich gewesen, die Inaugenscheinnahme/Ortsbesichtigung und Vernehmung/Befragung von Zeugen vorab sämtlichen Prozessbeteiligten mitzuteilen (vgl. dazu die Regelungen der § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. §§ 86, 162, 165, 168d Abs. 1 i.V.m § 168c Abs. 5 S. 1, 225, 224 StPO). Im konkreten Fall hat der abgelehnte Richter ohne Rücksicht auf die vorgenannten strafprozessualen Regelungen allein für sich die Möglichkeit eröffnet, unter Ausschluss des Betroffenen und seines Verteidigers die Messörtlichkeit in Augenschein zu nehmen und die Vernehmung/Befragung von Zeugen des Verfahrens durchzuführen. Dieses prozessuale Vorgehen kann für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung den Eindruck einseitiger Verfahrensführung erzeugen und begründen.
Die nachträgliche dienstliche Stellungnahme des abgelehnten Richters entkräftet nach Wertung des Gerichts den Anschein der Voreingenommenheit nicht. Diese lässt nicht erkennen, dass sich der abgelehnte Richter mit der zentralen Frage der Anwesenheitsrechte von Prozessbeteiligten bei richterlichen "Ermittlungshandlungen" inhaltlich auseinandergesetzt hat. Die Äußerung, er habe – auch ohne Mitteilung an die Prozessbeteiligten – ein "Recht" … "im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes die Örtlichkeit einer Messung vor Durchführung einer Hauptverhandlung anzuschauen", und der (erneute) Hinweis darauf, dass er die Zeugen zufällig dort angetroffen habe, wodurch offensichtlich die Befragung der Messbeamten gerechtfertigt werden soll, geben vielmehr auch weiterhin für eine Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung ausreichend Anlass, an der Unvoreingenommenheit des abgelehnten Richters zu zweifeln.
zfs 3/2024, S. 172 - 173