BGB § 823
Leitsatz
Ein Arzt im vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst kann bei differenzialdiagnostischen Anzeichen für eine coronare Herzerkrankung (hier: einen akuten Herzinfarkt) zur Befunderhebung (Ausschlussdiagnostik) und damit zur Einweisung des Patienten in ein Krankenhaus verpflichtet sein.
BGH, Beschl. v. 16.10.2007 – VI ZR 229/06
Sachverhalt
Der beklagte Arzt untersuchte den damals 34 Jahre alten Kläger im Rahmen des vertragsärztlichen Bereitschaftsdienstes der kassenärztlichen Vereinigung am Mittwoch, dem 6.3.1996 gegen 8.00 Uhr in dessen Wohnung. Der Kläger litt an Durchfall, Erbrechen, Schwindel und Übelkeit. Weiterhin wurde dem Beklagten über Schmerzen im Brustbereich des Klägers berichtet. Die Ehefrau des Klägers wies den Beklagten darauf hin, dass in der Familie des Klägers eine Herzinfarktgefährdung bestehe. Eine Messung ergab bei bekanntem Hochdruck einen Blutdruck von 200/130. Der Beklagte verabreichte dem Kläger eine Tablette Gelonida sowie 5 mg Nifedipin. Der Kläger erbrach sich nach etwa 15 Minuten. Daraufhin spritzte der Beklagte dem Kläger intramuskulär Dolantin. Bei dem Kläger, der während der Anwesenheit des Beklagten zwei Mal wegen Durchfalls und Erbrechens die Toilette aufsuchte, diagnostizierte er einen grippalen Infekt, eine Intercostalneuralgie und Diarrhöe. Die Frage des Beklagten, ob er in ein Krankenhaus gehen wolle, verneinte der Kläger.
Um 12.00 Uhr desselben Tages fand die Ehefrau den leblos auf dem Boden liegenden Kläger. Ein herbeigerufener anderer Notarzt, der einen Atem- und Kreislaufstillstand des Klägers festgestellt hatte, konnte den Kläger reanimieren. Ein inzwischen eingetretener generalisierter hypoxischer Hirnschaden hinterließ jedoch bleibende Beeinträchtigungen. Die den Kläger im Krankenhaus behandelnden Ärzte stellten einen akuten Hinterwandinfarkt fest. Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte hätte die Möglichkeit eines Infarktes abklären müssen. Auf diese Weise hätte der Infarkt verhindert werden können und der Hirnschaden hätte entweder nicht oder nicht in dem schließlich eingetretenem Umfang vorgelegen. Die Klage auf Schmerzensgeld, Verdienstausfall und Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten ist zurückgewiesen worden. Seine Berufung hatte keinen Erfolg. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht.
Aus den Gründen
[7] “ … II. … 1. … a) Das Berufungsgericht durfte das Gutachten E und das Privatgutachten N nicht zur Grundlage seines Urteils machen. Diese Gutachten berücksichtigten Symptome, die der Kläger am 6.3.1996 nach seinem Prozessvortrag aufwies, nicht erkennbar in der erforderlichen Weise.
[8] Nach dem Inhalt des Beweisbeschlusses vom 12.4.2000 hatte der Sachverständige die Schilderungen der Ehefrau des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 29.3.2000 zu berücksichtigen. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass das kardiologisch-pneumologische Gutachten E/B und der Privatsachverständige N bei Erstellung ihrer Gutachten davon ausgegangen wären, der Kläger sei am Morgen des 6.3.1996 schweißgebadet gewesen und habe unter Schwindel gelitten, über starke Schmerzen im Nacken- und Brustbereich sowie darüber geklagt, dass er fast keine Luft bekomme. Sie berücksichtigen die Schwindelgefühle und die Atemnot des Klägers nicht in nachvollziehbarer Weise. Schließlich ist der Sachverständige B im Ergänzungsgutachten vom 8.7.2004 trotz des Antrags des Klägers … nicht darauf eingegangen, ob die genannten Symptome in Übereinstimmung mit dem Gutachten D typisch für einen Herzinfarkt sind.
[9] Dadurch, dass das Berufungsgericht diese Gutachten dennoch ausführlich selbst gewürdigt und seiner Entscheidung zu Grunde gelegt und die Auslassungen und die – in erster Instanz ausdrücklich gerügten – Widersprüche zu den Gutachten D … nicht geklärt hat, hat es seinerseits den Kern des entscheidungserheblichen Klägervortrags nicht berücksichtigt (§ 543 Abs. 2 S. 1 Ziff. 2 Alt. 1 ZPO) und damit den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG fortgesetzt. Das führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache (§ 544 Abs. 7 ZPO). Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung der Angaben der Ehefrau des Klägers durch die Sachverständigen zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre. Insbesondere kann die Kausalität der Behandlung für den Schaden des Klägers nach den derzeitigen Feststellungen nicht verneint werden. Hätte der Beklagte die differenzialdiagnostische Möglichkeit eines akuten Herzinfarkts als nahe liegend berücksichtigen müssen, hätte er sie entweder selbst ausschließen oder den Kläger umgehend in ein Krankenhaus einweisen müssen, damit die für einen Ausschluss erforderlichen Befunde erhoben worden wären. Dann wären möglicherweise der Eintritt eines Herz- und Kreislaufstillstands oder doch die Folge einer hypoxischen Schädigung bei der zu unterstellenden ordnungsgemäßen Behandlung vermieden worden (vgl. BGH v. 27.4.2004, ...