BGB § 119 § 138 § 779
Leitsatz
1. Der in einem Anwaltsprozess (und somit: von den Prozessbevollmächtigten) geschlossene Prozessvergleich ist nicht deshalb unwirksam, weil eine Partei bei Abschluss des Vergleichs vorübergehend geschäftsunfähig war. Dieser Umstand begründet auch kein Anfechtungsrecht nach § 119 BGB.
2. Zur Vergleichsgrundlage (§ 779 BGB) und zur Frage der Sittenwidrigkeit bei einem Vergleich über eine private Berufsunfähigkeitsrente.
OLG Hamm, Urt. v. 22.10.2008 – 20 U 70/07
Sachverhalt
Die Parteien streiten (jetzt) um die Wirksamkeit eines Prozessvergleichs und um seine prozessbeendigende Wirkung. Der Kläger nimmt die Beklagte unter Behauptung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit auf Zahlung einer monatlichen Rente sowie auf Beitragsbefreiung aus einer bei der Beklagten genommenen Berufsunfähigkeitszusatzversicherung ab Mai 2000 in Anspruch.
Das LG hat die Klage abgewiesen, weil der Kläger den Nachweis bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit nicht geführt habe.
Hiergegen hat der Kläger form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 9.5.2008 haben die Parteien – nach umfangreicher Anhörung des Klägers insb. zu der von ihm zuletzt ausgeübten Tätigkeit – einen Prozessvergleich abgeschlossen, wonach die Beklagte zur Abgeltung der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung 105.000 EUR an den Kläger zahlt.
Der Kläger fühlt sich an den Vergleich nicht (mehr) gebunden und begehrt die Fortsetzung des Rechtsstreits. Hierzu trägt er vor:
Die Erklärung des – auf seine Weisungen hin handelnden – Prozessbevollmächtigten bzw. des Klägers selbst zum Abschluss des Vergleichs werde widerrufen bzw. angefochten. Der Kläger sei zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vergleichs partiell geschäftsunfähig gewesen. Er habe Wochen und Monate vor dem Termin beinahe täglich Antidepressiva, Schmerzmittel und Schlafmittel eingenommen. Am Abend vor dem Senatstermin und um 3.00 Uhr nachts habe er jeweils eine Tablette des als Antidepressiva bzw. Beruhigungsmittel wirkenden Medikaments Doxepin-neuraxpharm 25 mg zu sich genommen und am 9.5.2008 um 24.00 Uhr und morgens eine Tablette Ibubeta 800 (Wirkstoff Ibuprofen 800). Aus diesem Grunde sei er nicht in der Lage gewesen, der Verhandlung angemessen zu folgen; sein Urteilsvermögen sei eingeschränkt gewesen. Später sei ihm wieder klar geworden, dass er angesichts seiner Erkrankung keine Arbeitstätigkeit mehr ausüben könne und seine geringe Rente nicht ausreichen würde, um dauerhaft seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu sichern.
Aus den Gründen
Aus den Gründen: „… Die zulässige Berufung des Klägers führt nicht zu einer inhaltlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils. Der Rechtsstreit ist durch den Prozessvergleich vom 9.5.2008 beendet. Der Prozessvergleich ist wirksam.
1.) Macht eine Partei geltend, der geschlossene Prozessvergleich sei (materiellrechtlich) nichtig oder anfechtbar, so ist der ursprüngliche Rechtsstreit auf Antrag der Partei, die sich auf die Unwirksamkeit des Vergleichs beruft, fortzusetzen. Der Rechtsstreit beschränkt sich zunächst auf die Klärung der Frage, ob der Vergleich wirksam ist oder nicht. Wird die Wirksamkeit des Vergleich und damit auch die Erledigung des Rechtsstreits verneint, so kann hierüber ein Zwischenurteil nach § 303 ZPO ergehen. Wird der Vergleich als wirksam bewertet, so wird durch Endurteil ausgesprochen, dass der Rechtsstreit durch den Vergleich erledigt/beendet ist (BGH NJW 1999, 2903 … ).
2.) Die vom Kläger gegen die Wirksamkeit vorgebrachten Einwendungen der fehlenden Geschäftsfähigkeit (§ 105 Abs. 2 BGB), der Irrtumsanfechtung (§ 119 BGB), des Irrtums über die Vergleichsgrundlage (§ 779 BGB) und der Sittenwidrigkeit (§ 138 RGB) erweisen sich als unbegründet.
a) Der Kläger kann sich nicht erfolgreich auf die – zu seinen Gunsten zu unterstellende – vorübergehende Geschäftsunfähigkeit nach § 105 Abs. 2 BGB berufen.
aa) Der Kläger hat hier selbst keine Willenserklärung zum Abschluss des Vergleichs abgegeben. Der Prozessvergleich ist von seinem – auch insoweit bevollmächtigten – Prozessbevollmächtigten als seinem Vertreter nach § 164 BGB geschlossen worden. Der Vertreter gibt jedoch eine eigene Willenserklärung ab; er ist der rechtsgeschäftlich Handelnde. Soweit Fragen der Geschäftsunfähigkeit (als Zustand, in dem eine Willenerklärung überhaupt nicht wirksam abgegeben werden kann) betroffen sind, so ist – nach allgemeinen Grundsätzen – auf die Person des Vertreters und nicht auf die Person des Vertretenen abzustellen. …
Der Kläger behauptet selbst nicht, dass sein Prozessbevollmächtigter geschäftsunfähig war. Auf Mängel der erteilten Vollmacht beruft sich der Kläger ebenfalls nicht.
bb) Aus der Vorschrift des § 166 Abs. 1 BGB folgt nichts anderes. Die Norm ist nur auf Willensmängel nach § 116 ff. BGB anzuwenden, nicht auf die Regeln über die Geschäftsunfähigkeit nach §§ 104, 105 BGB. Im Übrigen wäre auch dann auf die Person des Vertreters, also auf den Prozessbevollmächtigten abzustellen. § 166 Abs. 2 BGB ist ebenfalls nicht einschlägig. Diese Norm...