ZPO § 286 § 287
Leitsatz
Bei der Ermittlung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer HWS-Distorsion und einer darauf beruhenden behaupteten Sekundärverletzung in der Form eines Tinnitus hat der Tatrichter allein den Beweismaßstab des § 287 ZPO zu beachten. Der hierfür zu bestellende medizinische Gutachter hat bei seiner Prüfung die Beweisanforderungen des § 287 ZPO zu beachten.
(Leitsätze der Schriftleitung)
OLG München, Urt. v. 5.11.2010 – 10 U 2401/10
Sachverhalt
Der Kl. hat die Verurteilung der Bekl. auf Zahlung von Schmerzensgeld geltend gemacht, bei dem die Bekl. (Halter und Fahrer sowie deren Haftpflichtversicherung) den Eintritt einer HWS-Distorsion sowie einen darauf beruhenden Tinnitus des Kl. bestritten haben. Nach Einholung von Gutachten eines biomedizinischen Gutachters, der die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung bei dem Zusammenstoß des Fahrzeuges des Kl. und des bekl. Halters für ausreichend hielt, um gesundheitliche Beeinträchtigungen auszulösen und auf die Notwendigkeit einer medizinischen Beurteilung hinwies, wurde ein medizinischer Gutacher bestellt, der unter Zugrundelegung des Beweismaßstabes des § 286 ZPO es verneinte, dass eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für die Ursächlichkeit der HWS-Distorsion für einen Tinnitus bestehe. Das LG folgte dieser Argumentation und wies die Schmerzensgeldklage des Kl. ab. Der Senat hob das Urteil des LG einschließlich des zu Grunde liegenden Verfahrens mit Ausnahme der biomechanischen Begutachtung auf und wies den Rechtsstreit wegen fehlerhafter Beweiswürdigung durch das LG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das erstinstanzliche Gericht zurück.
2 Aus den Gründen:
[11] "I. Das LG hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht Ansprüche des Kl. verneint. Das Erstgericht hat eine unzureichende Beweisaufnahme durchgeführt und eine wenig überzeugende Beweiswürdigung vorgelegt.
[12] 1. Die Gründe des angefochtenen Urt. lassen nicht erkennen, ob der Erstrichter die Unterscheidung zwischen Primär- (HWS-Distorsion) und Sekundärverletzung (Tinnitus) und das sich hieraus ergebende unterschiedliche Beweismaß beachtet hat. Der Erstrichter hätte im Rahmen seiner Beweiswürdigung für die Prüfung der HWS-Distorsion das Beweismaß des § 286 ZPO zugrunde legen müssen, während im Falle des Nachweises einer Primärverletzung für die Prüfung des Tinnitus das Beweismaß des § 287 ZPO genügt hätte.
[13] Nach § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht währ zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.7.2006 – 10 U 1684/06 [juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 11.6.2010 – 10 U 2282/10) – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine “an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit’, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad anGewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245, 256 = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39, 40 und zuletzt VersR 2007,1429, 1431 unter II 2; Senat a.a.O.).
[14] Im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich BGH VersR 1970, 924, 926 f.; NJW 1994, 3295 ff.; 2003, 1116, 1117; 2004, 777, 778; Senat NZV 2006, 261, 262; r+s 2006, 474 m. zust Anm. von Lemcke = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann [Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 8.5.2007 – VI ZR 29/07 zurückgewiesen], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 19.3.2010 – 10 U 3870/09). § 287 ZPO entbindet aber nicht vollständig von der grundsätzlichen Beweislastverteilung und erlaubt es nicht, zu Gunsten des Beweispflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen “alles offen’ bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt (so BGH VersR 1970, 924, 927; Senat NZV 2006, 261 und Urt. v. 28.7.2006 – 10 U 1684/06).
[15] Ferner ist zu berücksichtigen, dass auch bei der Ermittlung des Kausalzusammenhangs zwischen dem unstrittigen oder bewiesenen Haftungsgrund (Rechtsgutverletzung) und dem eingetretenen Schaden der Tatrichter nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO unterliegt; vielmehr ist er auch hier nach Maßgabe des § 287 ZPO freier gestellt (st. Rspr., vgl. BGHZ 4, 192, 196 = NJW 1952, 301; 126, 217 ff. = NJW 1994, 3295 ff.; VersR 1968, 850, 851; 1975, 540, 541; NJW-RR 1987, 339; NJW 2003, 1116, 1117; 2004, 777, 778; Senat NZV 2006, 261, 262; r+s 2006, 474 m. zust. Anm., von Lemcke = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann [Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 8.5.2007 – VI ZR 29/07 zurückgewiesen]). Allerdings kann der Tat...