StVG §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 18 Abs. 1 und 3; ZPO § 286
Leitsatz
Der erste Anschein spricht jedenfalls dann nicht für ein Verschulden des Auffahrenden, wenn unstreitig oder bewiesen ist, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt ist.
BGH, Urt. v. 30.11.2010 – VI ZR 151/10
Sachverhalt
Die Parteien machen mit Klage und Widerklage wechselseitig Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 5.11.2008 auf der Ausfahrt einer BAB ereignet hat. Der Bekl. zu 1 befuhr mit dem Fahrzeug des WiderKl., einem Opel Astra, der bei der Bekl. zu 2 haftpflichtversichert ist, die Autobahn und wechselte an der Ausfahrt auf den Verzögerungsstreifen, um dort die Autobahn zu verlassen. Der Widerbekl. zu 1 befand sich mit dem Fahrzeug der Kl., einem VW-Bus, der bei der Widerbekl. zu 2 haftpflichtversichert ist, zunächst hinter dem Bekl. zu 1, überholte diesen jedoch im weiteren Verlauf, wobei der konkrete zeitliche Ablauf zwischen den Parteien streitig ist. In der lang gezogenen Ausfahrt bremste der Widerbekl. zu 1 den VW-Bus dann plötzlich bis zum Stillstand ab, wobei der Bekl. zu 1 nicht mehr rechtzeitig zu reagieren vermochte und mit dem Opel Astra auf das Fahrzeug der Kl. auffuhr. Hierdurch wurde der VW-Bus hinten rechts und der Opel Astra vorne links beschädigt. Die Kl. und die Widerbekl. haben behauptet, der Widerbekl. zu 1 habe mit dem VW-Bus den Opel Astra bereits 300 m vor der Ausfahrt überholt. Der spätere Unfall habe hiermit in keinem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang gestanden. Die Bekl. und die Widerkl. haben behauptet, der Verkehrsunfall sei dadurch verursacht worden, dass der Widerbekl. zu 1 mit dem VW-Bus, der ihn zuvor überholt habe, unvermittelt wieder auf die rechte Spur vor den vom Bekl. zu 1 geführten Opel Astra gewechselt sei.
Das AG hat der Klage und der Widerklage jeweils zur Hälfte stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Die Berufung der Kl. und der Widerbekl. hatte lediglich hinsichtlich des Kostenausspruchs teilweise Erfolg. Im Übrigen hat das LG die Berufung zurückgewiesen. Es hat die Revision im Hinblick auf die in der obergerichtlichen Rspr. umstrittene Frage der Anwendbarkeit der Grundsätze des Anscheinsbeweises bei Auffahrunfällen zugelassen. Die Revision beider Seiten blieb ohne Erfolg. …
2 Aus den Gründen:
"[5] 1. In der obergerichtlichen Rspr. wird zum Teil bei Auffahrunfällen auf der Autobahn bereits ein Anscheinsbeweis für das Verschulden des Auffahrenden verneint und – i.d.R. – eine hälftige Schadensteilung angenommen, wenn vor dem Auffahren ein Fahrspurwechsel stattgefunden hat, aber streitig und nicht aufklärbar ist, ob die Fahrspur unmittelbar vor dem Anstoß gewechselt worden ist und sich dies unfallursächlich ausgewirkt hat (vgl. etwa OLG München, Urt. v. 4.9.2009 – 10 U 3291/09, juris, Rn 21; KG, Beschl. v. 14.5.2007 – 12 U 195/06, NZV 2008, 198 und Urt. v. 21.11.2005 – 12 U 214/04, NZV 2006, 374; OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.3.2004 – 1 U 97/03, juris, 2. Orientierungssatz, Rn 10, 19; OLG Hamm, Urt. v. 8.12.1997 – 6 U 103/97, r+s 1998, 459 = MDR 1998, 712 und OLG Celle, Urt. v. 26.11.1981 – 5 U 79/81, VersR 1982, 960). Dies wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Zusammenstoß mit einem vorausfahrenden Fahrzeug nur dann das typische Gepräge eines Auffahrunfalls trage, der nach der Lebenserfahrung den Schluss auf zu schnelles Fahren, mangelnde Aufmerksamkeit und/oder einen unzureichenden Sicherheitsabstand des Hintermannes zulasse, wenn feststehe, dass sich das vorausfahrende Fahrzeug schon “eine gewisse Zeit’ vor dem nachfolgenden PKW befunden und diesem die Möglichkeit gegeben habe, einen ausreichenden Sicherheitsabstand aufzubauen (vgl. etwa OLG München, Urt. v. 21.4.1989 – 10 U 3383/88, NZV 1989, 438).
[6] 2. Ein anderer Teil der obergerichtlichen Rspr. vertritt die Auffassung, dass nur die seitens des Auffahrenden bewiesene ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt sei, den Anscheinsbeweis erschüttern könne (vgl. etwa OLG Saarbrücken, Urt. v. 19.5.2009 – 4 U 347/08, NZV 2009, 556 und v. 19.6.2005 – 9 U 290/04, MDR 2006, 329; OLG Zweibrücken, Urt. v. 30.6.2008 – 1 U 19/08, SP 2009, 175 und OLG Köln, Urt. v. 29.6.2004 – 9 U 176/03, r+s 2005, 127; ebenso wohl auch OLG Naumburg, Urt. v. 6.6.2008 – 10 U 72/07, NZV 2008, 618; OLG Karlsruhe, Urt. v. 24.6.2008 – 1 U 5/08, SP 2009, 66; OLG Frankfurt, Urt. v. 2.3.2006 – 3 U 220/05, VersR 2006, 668 und OLG Koblenz, Urt. v. 3.8.1992 – 12 U 798/91, NZV 1993, 28). Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten, mit der Folge, dass es nunmehr Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf i.S. einer beweisrechtlichen “Vorleistung’ auszuschließen (vgl. OLG Saar...