VV RVG Vorbem. 3 Abs. 4, Nr. 2300, 3100; RVG § 15a Abs. 2
Leitsatz
Bei außergerichtlichen Regulierungsverhandlungen zwischen dem Geschädigten und der Haftpflichtversicherung des Schädigers ist die entstehende Geschäftsgebühr auch dann auf eine nachfolgende Verfahrensgebühr anzurechnen, wenn im Prozess lediglich der VN, nicht auch der VR in Anspruch genommen wird.
OLG München, Beschl. v. 7.2.2012 – 11 W 90/12
Sachverhalt
Die Kl. hatte wegen eines vom Dach des Gebäudes der Bekl. abgegangenen Schneelawine Schäden erlitten. Wegen dieser Schäden machte die Kl. durch ihren späteren Prozessbevollmächtigten bei der Haftpflichtversicherung der Bekl. vorgerichtlich Schadensersatz geltend. Für diese Tätigkeit war ihrem Rechtsanwalt nach einem Gegenstandswert bis 7.000 EUR eine 1,3 Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG i.H.v. 487,50 EUR nebst Postentgeltpauschale und Umsatzsteuer, insg. 603,93 EUR, angefallen. Da die außergerichtlichen Bemühungen ihres Rechtsanwalts keinen Erfolg hatten, machte die Kl. ihre Ansprüche vor dem LG T nunmehr allein gegen die Bekl. geltend. Das LG hat der Klage wegen der Schadensersatzleistungen und der Anwaltskosten stattgegeben.
Im Kostenfestsetzungsverfahren setzte der Rechtspfleger des LG die von der Kl. beantragten Kosten – darunter eine 1,3 Verfahrensgebühr – antragsgemäß gegen die Bekl. fest. Eine teilweise Anrechnung der i.H.v. 487,50 EUR titulierten Geschäftsgebühr auf die geltend gemachte 1,3 Verfahrensgebühr hat der Rechtspfleger hierbei nicht vorgenommen. Die gegen die unterbliebene Anrechnung der Geschäftsgebühr gerichtete sofortige Beschwerde der Bekl. hatte beim OLG München Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"… Das Rechtsmittel erweist sich als begründet, da die vorprozessual durch die Regulierungsverhandlungen mit dem B Versicherungsverband entstandene Geschäftsgebühr auf die im Prozess gegen die Bekl. entstandene Verfahrensgebühr gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV RVG, § 15a Abs. 2 RVG anzurechnen ist."
1. Nach Vorb. 3 Abs. 4 VV RVG wird eine Geschäftsgebühr nach den Nummern 2300 bis 2303 wegen desselben Gegenstands zur Hälfte, jedoch höchstens mit 0,75 auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet. Die im gerichtlichen Verfahren nach der Nummer 3100 VV-RVG anfallende 1,3 Verfahrensgebühr vermindert sich entsprechend.
2. Eine Anrechnung kommt infrage, da selbständige Gebührenansprüche in verschiedenen Angelegenheiten entstanden sind, wenn der Anwalt einmal vorprozessual und sodann im Prozess tätig wird (Gerold/Schmidt/Mayer, RVG, 19. Aufl., § 15 Rn 7 ff.).
a) Für die Anrechnung der Geschäftsgebühr gem. der Vorbem. 3 Abs. 4 VV-RVG ist weiter erforderlich, dass diese wegen desselben Gegenstands entstanden ist. Dies wird verneint, wenn der Anwalt vorprozessual und im Prozess gegen verschiedene Anspruchsgegner vorgeht (AnwK-RVG/Onderka/N. Schneider, 4. Aufl., VV Vorbem. 3 Rn 212); so auch wenn – wie vorliegend – ein Unfallgeschädigter Schadensersatz außergerichtlich nur gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Schädigers geltend macht, dann aber im Prozess allein den VN verklagt (Gerold/Schmidt/Müller-Rabe, RVG, 19. Aufl. Vorbem. 3 VV RVG Rn 193).
Auch der Senat hat in einer derartigen Konstellation früher die Auffassung vertreten, unabhängig vom Innenverhältnis zwischen VR und VN sei allein die formal unterschiedliche Parteistellung entscheidend (Senat AnwBl 1990, 325; ebenso OLG Bamberg OLGR 1998, 121). Das LG ist dieser Rechtsauffassung gefolgt.
b) Nach einer Gegenmeinung würde eine Nichtanrechnung der Geschäftsgebühr im Haftpflichtprozess gegen VR und VN der versicherungsvertraglichen Bindung zwischen VR und VN nicht genügend Rechnung tragen, wonach der Kfz-Haftpflichtversicherer nach den AVB Regulierungsvollmacht habe und als Vertreter des Versicherten Erklärungen in dessen Namen abgeben würde. Nicht nur im gerichtlichen Verfahren, sondern auch bei der vorprozessualen Geltendmachung eines Anspruchs würden deshalb automatisch VN und Haftpflichtversicherung in Anspruch genommen, was zu einem engen personellen Zusammenhang der Anspruchsgegner führe, der für die Annahme desselben Gegenstandes ausreiche (OLG Karlsruhe AGS 1994, 43).
c) Der Senat folgt nunmehr für die hier gegebene Fallgestaltung einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der vorgenannten Auffassung, da die wesentlichen Kriterien für die Annahme personeller Identität keine anderen sind als bei einem Kfz-Haftpflichtschaden. Dem engen Zusammenhang zwischen Versicherung und VN steht insb. nicht entgegen, dass im allgemeinen Haftpflichtprozess die direkte Inanspruchnahme des VR im Gegensatz zur Regelung bei Kfz-Haftpflichtschäden gem. § 10 Abs. 6 AKB nicht eröffnet ist (in diesem Fall liegt nach überwiegender Auffassung derselbe Gegenstand i.S.v. Vorbem. VV RVG vor, vgl. Gerold/Schmidt, a.a.O. 1008 VV Rn 150, und BGH zfs 2006, 265 = RVGreport 2006, 34 (Hansens) = AGS 2006, 92). Die Entscheidung des Gesetzgebers, für bestimmte Haftungsschäden wegen ihrer tatsächlichen Bedeutung klagbare Ansprüche gegen das Versicherungsunternehmen zu schaffen oder nicht, ist für...