[4] "Das BG hat gem. den Feststellungen des LG den Unfallverlauf als nicht im Einzelnen aufklärbar angesehen. Das Gericht habe sich weder davon überzeugen können, dass der Unfall durch einen der beiden Fahrer verschuldet noch für eine der beiden Seiten ein unabwendbares Ereignis gewesen sei. Aus den Angaben des Sachverständigen ergebe sich nur, dass der Pkw P nahezu geradlinig mit paralleler Längsachse auf das Heck des Pkw D aufgeprallt und der Ausschervorgang mindestens beim Kollisionsphasenbeginn vollständig abgeschlossen gewesen sei. Die Kollisionsgeschwindigkeitsdifferenz habe zwischen 20 bis 30 km/h gelegen. Mangels objektiver Spuren ließen sich weder die Ausgangsgeschwindigkeiten der Fahrzeuge rekonstruieren noch die zeitliche Abfolge zwischen Ausscheren und Auffahren."

[5] Bei dem hier vorliegenden unmittelbar vor dem Aufprall abgeschlossenen Spurwechsel liege eine Typizität der Auffahrsituation vor, die die Anwendung des Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden – auch hinsichtlich des Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses für den Vorausfahrenden – rechtfertige.

[6] II. Das Berufungsurt. hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des BG sind die Grundsätze des Anscheinsbeweises im Streitfall nicht zu Lasten der Bekl. anwendbar.

[7] 1. Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist (vgl. Senatsurt. v. 24.3.1959 – VI ZR 82/58, VersR 1959, 518, 519; v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 343, 344; v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, VersR 1996, 772; v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, VersR 2007, 557 Rn 5; v. 30.11.2010 – VI ZR 15/10, VersR 2011, 234 Rn 7). Demnach kann bei Unfällen durch Auffahren, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, grds. der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen (vgl. Senatsurt. v. 30.11.2010 – VI ZR 15/10, a.a.O. m.w.N.). Es reicht allerdings allein das “Kerngeschehen' – hier: Auffahrunfall – als solches dann als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben (vgl. Senatsurt. v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, a.a.O.; v. 19.3.1996 – VI ZR 380/94, a.a.O.).

[8] 2. Infolgedessen ist es bei Auffahrunfällen wie dem vorliegenden (Auffahren auf der linken Spur einer Autobahn in einem gewissen zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel des Vorausfahrenden) umstritten, ob es sich um eine typische Auffahrsituation mit der Folge eines Anscheinsbeweises zu Lasten des Auffahrenden handelt oder nicht.

[9] a) Das BG und ein Teil der obergerichtlichen Rspr. vertreten die Auffassung, dass nur die seitens des Auffahrenden bewiesene ernsthafte Möglichkeit, dass das vorausfahrende Fahrzeug in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Auffahrunfall in die Fahrbahn des Auffahrenden gewechselt sei, den grds. gegebenen Anscheinsbeweis erschüttern könne (vgl. etwa OLG Köln r+s 2005, 127; OLG Saarbrücken OLGR Saarbrücken 2005, 813, 814 und 2009, 636, 638; OLG Zweibrücken SP 2009, 175 f.; KG NJW-RR 2011, 28). Zeige das Unfallgeschehen das typische Gepräge eines Auffahrunfalls, so könne sich der Unfallgegner nicht mit der bloßen Behauptung der lediglich theoretischen Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs entlasten mit der Folge, dass es Sache des Vorausfahrenden sei, den theoretisch in Betracht kommenden Unfallverlauf im Sinne einer beweisrechtlichen “Vorleistung' auszuschließen (vgl. OLG Saarbrücken OLGR Saarbrücken 2005, 813, 814; KG NZV 2009, 458, 459). Vielmehr müssten sich aus den unstreitigen oder bewiesenen Umständen zumindest konkrete Anhaltspunkte und Indizien für den unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen dem behaupteten Fahrspurwechsel und dem Auffahrunfall ergeben, um den gegen den Auffahrenden sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. OLG Köln, a.a.O.). Auch nach der im Schrifttum überwiegend vertretenen Auffassung greift der Anscheinsbeweis bei Auffahrunfällen nur dann nicht zu Lasten des Auffahrenden ein, wenn aufgrund erwiesener Tatsachen feststeht oder unstreitig ist, dass der Fahrstreifenwechsel des Vorausfahren...

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