GG Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1; StVO § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 § 45 Abs. 9 S. 3; StVO Anlage 2 Nr. 30 (Zeichen 253) und 30.1; 16. BImSchV § 1 Abs. 2; VwGO § 114 S. 2
Leitsatz
Die Verhältnismäßigkeit eines auf § 45 Abs. 9 S. 3 StVO gestützten Durchfahrverbots kann nicht allein anhand des abstrakten Verhältnisses des Mautausweichverkehrs zu dem sonstigen von der Sperrung betroffenen Durchgangsverkehr beurteilt werden. Eine sachgerechte Bewertung setzt auch voraus, dass die wirtschaftlichen Nachteile der vom Durchfahrverbot betroffenen Unternehmen der sich durch den Mautfluchtverkehr ergebenden Zusatzbelastung für die Anwohner gegenübergestellt werden. Dabei ist eine bestehende Lärmvorbelastung ebenso zu berücksichtigen wie das Ausmaß der durch das Durchfahrverbot zu erwartenden Verbesserung der Immissionssituation.
BVerwG, Urt. v. 15.12.2011 – 3 C 40.10
Sachverhalt
Die klagenden Speditions- u. Logistikunternehmen wandten sich gegen die verkehrsrechtlichen Anordnungen, mit denen das Landratsamt R die B 8 zwischen der Anschlussstelle R und M, Ortsteil S, für den Durchgangsverkehr mit Nutzfahrzeugen mit einem zulässigen Gesamtgewicht von mehr als 12 Tonnen gesperrt hatte, um die Anwohner gegen eine zusätzliche, durch Mautflucht hervorgerufene Lärmbelastung zu schützen. Das VG Regensburg (Urt. v. 25.2.2008 – VG RO 5 K 07.1971) gab der Klage statt; der BayVGH (Urt. v. 18.1.2010 – VGH 11 BV 08.791) wies die Berufung des Bekl. zurück.
Zur Begründung des BayVGH heißt es: Die angegriffenen verkehrsrechtlichen Anordnungen seien ermessensfehlerhaft und deshalb rechtswidrig. Zwar sei es auf der betroffenen Strecke zu einer Veränderung der Verkehrsverhältnisse durch Mautausweichverkehr gekommen. Nach der Verkehrsuntersuchung seien in Fahrtrichtung R dem Mautausweichverkehr rund 100 Lkw-Fahrten pro Werktag zuzuordnen. Diese Veränderung führe zu erheblichen Auswirkungen i.S.v. § 45 Abs. 9 S. 3 StVO. Orientierungspunkte dafür könnten § 1 Abs. 2 16. BImSchV entnommen werden, und zwar sowohl dessen S. 1 Nr. 2, der auf eine Erhöhung des Beurteilungspegels um mindestens 3 dB(A) abstelle, als auch dem S. 2, der die Fälle erfasse, in denen es zur weiteren Erhöhung eines Beurteilungspegels von schon mindestens 70 dB(A) am Tag oder 60 dB(A) in der Nacht komme. Hier übersteige die Vorbelastung die genannten Dezibel-Werte teils deutlich. Entlang der Sperrstrecke seien tagsüber 9 und nachts 17 überwiegend oder ausschließlich zu Wohnzwecken genutzte Gebäude in dieser Weise betroffen. Nach der vorliegenden Isophonenkarte erhöhe sich der Beurteilungspegel bei einigen der betroffenen Gebäude um 1 dB(A), bei anderen Wohngebäuden führe die Lärmerhöhung nicht zu einer Erhöhung des Dezibelwertes. Jedoch seien die Ermessenserwägungen des Bekl., auch soweit sie im Berufungsverfahren gem. § 114 S. 2 VwGO ergänzt worden seien, fehlerhaft. Zwar sei nicht zu beanstanden, dass der Bekl. nicht ermittelt habe, inwieweit die betroffenen Gebäude bereits passive Schallschutzmaßnahmen aufwiesen. § 1 Abs. 2 16. BImSchV stelle für die Ermittlung der Beurteilungspegel auf die Lärmeinwirkung außerhalb der betroffenen Wohngebäude ab. Abgesehen davon sei es dem Bekl. nicht zumutbar gewesen, entsprechende Nachforschungen anzustellen. Auch was die wirtschaftliche Belastung der Kl. durch das Durchfahrverbot angehe, sei kein Ermessensmangel festzustellen. Der Bekl. sei von einer jährlichen mautbedingten Mehrbelastung für das Transportgewerbe in einer Größenordnung von 705.000 EUR ausgegangen; diese Summe ergebe sich aus der Multiplikation der Zahl der vom Durchfahrverbot betroffenen Lkw mit der für die Autobahnbenutzung anfallenden Maut. Weitere kostenbildende Faktoren wie Zeitverlust, Treibstoffverbrauch und Fahrzeugabnutzung habe der Bekl. zwar gesehen, aber nicht näher untersucht. Eine in dieser Weise typisierende Betrachtung sei zulässig. Auch hier sei zu berücksichtigen, dass Maßnahmen zur Unterbindung des Mautausweichverkehrs ausweislich der Begründung der Änderungsverordnung mit einem möglichst geringen Verwaltungsaufwand verbunden sein sollten. Ebenso wenig könne den Kl. in der Annahme gefolgt werden, es sei ermessensfehlerhaft, dass der Bekl. statt der Sperrung keine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 60 oder 50 km/h angeordnet habe. Doch verletze das Durchfahrverbot den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz deshalb, weil die Kl., wie der weit überwiegende Teil der sonst betroffenen Transportunternehmer, den in Rede stehenden Streckenabschnitt bereits vor der Einführung der Autobahnmaut genutzt hätten, da er die für sie günstigere Route darstelle. Von den 330 Lkw, die nach Gesamtgewicht und zurückzulegender Entfernung als potenzieller Mautausweichverkehr in Richtung R in Betracht kämen, seien nur rund 100 Fahrzeuge dem tatsächlichen Mautausweichverkehr zuzurechnen. Mache aber der tatsächliche Mautausweichverkehr nur knapp ein Drittel der insgesamt von der Sperrung für den Durchgangsverkehr betroffenen Lkw aus, sei die Anforderung nicht mehr erfüllt, die verkehrsrechtliche Maßnahme...