"… Zur Beantwortung der Fragen"
Zur ersten Frage
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein “Konstruktionsteil' im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
In Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 wird “Abschalteinrichtung' definiert als “ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird'.
Der Begriff “Konstruktionsteil' wird in dieser Bestimmung nicht definiert.
Nach st. Rspr. des Gerichtshofs sind die Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die im Unionsrecht nicht definiert werden, entsprechend ihrem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Kontext sie verwendet werden und welche Ziele mit der Regelung verfolgt werden, zu der sie gehören (Urt. v. 1.10.2020, Entoma, C-526/19, EU:C:2020:769, Rn 29).
Erstens ist festzustellen, dass mit dem Begriff “Konstruktionsteil' nach seinem üblichen Sinn ein im Hinblick auf seine Einbeziehung in ein funktionales Ganzes hergestellter Gegenstand bezeichnet wird.
Zweitens geht aus Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 hervor, dass unter den Begriff der Abschalteinrichtung im Sinne dieser Bestimmung “ein', d.h. jedes Konstruktionsteil fällt. Insoweit ist der französischen Regierung und der Kommission beizupflichten, dass eine solche Definition der Abschalteinrichtung dem Begriff “Konstruktionsteil' eine große Tragweite verleiht, die sich sowohl auf die mechanischen Teile als auch auf die ihre Aktivierung steuernden elektronischen Teile erstreckt, soweit sie auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirken und dessen Wirksamkeit verringern.
Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die Öffnung des AGR-Ventils in Echtzeit von einem der Rechner zur Motorsteuerung geregelt wird, bei dem es sich um ein On-Board-Informationssystem des Fahrzeugs handelt. Dieser Rechner sendet nach Maßgabe der von verschiedenen Sensoren gesammelten Informationen (u.a. Geschwindigkeit oder Motortemperatur) Befehle an den Stellantrieb des AGR-Ventils. Die Wirksamkeit der Abgasreinigung hängt von der Öffnung dieses Ventils ab, die sich nach dem Quellcode der in den Rechner integrierten Software richtet.
Da eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software wie die hier in Rede stehende somit auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit verringert, handelt es sich bei ihr um ein “Konstruktionsteil' i.S.v. Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007.
Diese weite Auslegung des Begriffs “Konstruktionsteil' wird durch das mit der Verordnung Nr. 715/2007 verfolgte Ziel bestätigt, das nach ihrem sechsten Erwägungsgrund darin besteht, zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte die NOx-Emissionen bei Dieselfahrzeugen erheblich zu mindern.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein “Konstruktionsteil' im Sinne dieser Bestimmung darstellt, da sie auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirkt und dessen Wirksamkeit verringert.
Zur zweiten Frage
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff “Emissionskontrollsystem' im Sinne dieser Bestimmung nur die Technologien und die Strategie der Nachbehandlung von Abgasen fallen, mit denen die Emissionen im Nachhinein, d.h. nach ihrer Entstehung, verringert werden, oder dahin, dass darunter auch diejenigen fallen, mit denen – wie mit dem AGR-System – die Emissionen im Vorhinein, d.h. bei ihrer Entstehung, verringert werden.
Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass es zwei Strategien gibt, die von den Herstellern in ihren Dieselfahrzeugen eingesetzt werden können, um die Schadstoffemissionen zu verringern. Zum einen handelt es sich dabei um die sogenannte “motorinterne Strategie' wie das AGR-System, die darin besteht, die Entstehung von Schadstoffen im Motor selbst zu verringern, und zum anderen um die sogenannte “Nachbehandlung von Abgasen', die darin besteht, auf die Abgasemissionen nach ihrer Entstehung einzuwirken.
In der Verordnung Nr. 715/2007 wird der Begriff “Emissionskontrollsystem' als solcher nicht definiert, aber in ihrer Präambel heißt es, dass es angesichts des mit ihr angestrebten Ziels der Verringerung von Emissionen e...