VVG § 172 Abs. 2
Leitsatz
Zunehmende Einschränkungen der Berufstätigkeit haben in der Berufsunfähigkeitsversicherung bei dem erforderlichen Vergleich der aktuellen Berufsfähigkeit mit derjenigen in gesunden Tagen auch dann unberücksichtigt zu bleiben, wenn sie nicht nachweislich ausschließlich leidensbedingt erfolgt sind.
OLG Frankfurt, Urt. v. 18.11.2022 – 7 U 113/20
1 Sachverhalt
Die Kl. macht gegen die Bekl. Ansprüche auf bedingungsgemäße Leistungen aus drei Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen geltend.
Die Kl. unterhält bei der Bekl. mehrere Verträge über eine Berufsunfähigkeitsversicherung, eine kapitalbildende Lebensversicherung nebst Berufsunfähigkeitszusatzversicherung.
Die Kl. ist seit 1993 als niedergelassene Fachärztin für Gynäkologie in einer Gemeinschaftspraxis tätig, in der sowohl sie als auch ihr Ehemann – ebenfalls Gynäkologe – zunächst eine Vollzeittätigkeit ausübten. Zum 1.1.2013 veranlasste die Kl. die Umwandlung einer Hälfte ihres Kassensitzes in einen Angestelltensitz, auf dem ihr Ehemann, der seinen Kassensitz veräußert hatte, tätig wurde. Die Kl. arbeitete fortan nur noch 15 bis 20 Stunden in der Woche. Nachdem ihr Ehemann aus Altersgründen ausschied, verkaufte die Kl. ihren Sitz zum 1.10.2015. Seither arbeitete sie nur noch wenige Stunden in der Woche in der Versorgung von Privatpatienten.
Im September 2015 beantragte die Kl. wegen orthopädischer und psychischer Beschwerden bei der Bekl. Leistungen aus den Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherungen. In dem Antrag gab sie an, an vier Tagen in der Woche zehn bis zwölf Stunden täglich gearbeitet zu haben, und legte ihre Praxistätigkeit näher dar. Die Bekl. stellte die Inhalte der Einzeltätigkeit unstreitig.
Die Kl. sucht am 2.10.2015 A auf, der eine leichte depressive Episode diagnostizierte und eine Psychotherapie empfahl. Die Kl. begab sich in Behandlung von Frau B, die die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, stellte.
Die Bekl. trat in die Leistungsprüfung ein und holte ein neuropsychiatrisches Gutachten von C ein, der zu dem Ergebnis gelangte, es liege eine leichte bis mittelgradige depressive Episode vor. Die Kl. sei zu 25 % in ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt und könne den Praxistätigkeiten noch in einem Umfang von 15 Wochenstunden nachgehen, so dass sie ihren Beruf, eine Wochenarbeitszeit von 20 Stunden zugrunde gelegt, zu 75 % ausführen könne.
Darüber hinaus holte die Bekl. ein orthopädisches Gutachten von D ein, der zu dem Ergebnis gelangte, auf orthopädischem Fachgebiet lägen keine funktionellen Störungen vor, die die Berufsausübung beeinträchtigten. Die Beschwerden, über die die Kl. klage, seien aus orthopädischer Sicht nicht objektivierbar. Einen Verdacht auf Simulation oder Aggravation verneinte er.
2 Aus den Gründen:
Das LG hat die Bekl. im Ergebnis zu Recht verurteilt, an die Kl. bedingungsgemäße Leistungen aus den drei Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen zu zahlen. Die Kl. ist seit September 2015 bedingungsgemäß berufsunfähig.
Nach § 1 Abs. 1 BBZ erbringt die Bekl. die vereinbarten Leistungen, wenn die versicherte Person während der Dauer der Zusatzversicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig wird. Vollständige Berufsunfähigkeit liegt nach § 2 Abs. 1 AVB vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist, ihren Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht. Teilweise Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die in Absatz 1 genannten Voraussetzungen nur in einem bestimmten Grad voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen erfüllt sind (§ 2 Abs. 2 BBZ). Sofern die versicherte Person sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls vollständig oder teilweise außerstande gewesen ist, ihren Beruf auszuüben gilt dieser Zustand nach § 2 Abs. 3 BBZ von Beginn an als vollständige oder teilweise Berufsunfähigkeit.
Mit dem "zuletzt ausgeübten Beruf" im Sinne der Bedingungen, welcher für die Bemessung der Berufsunfähigkeit maßgeblich ist, ist die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Berufstätigkeit gemeint. Danach setzt Berufsunfähigkeit voraus, dass der Versicherte seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge der in den Bedingungen genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ganz oder teilweise nicht mehr ausüben kann (BGH, Beschl. v. 16.1.2019 – IV ZR 182/17).
Vorliegend steht die Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeit der Kl. als niedergelassene Gynäkologin, so wie sie von ihr im Leistungsantrag beschrieben worden ist, grundsätzlich nicht im Streit. Entgegen der Ansicht der Bekl. ist auf eine Berufsausübung im Umfang von 40 bis 48 Stunden pro Woche, nicht auf eine solche von 15 bis 20 Stunden pro Woche abzustellen, da die Kl. ihre Berufstätigkeit ab 2013 leidensbedingt deut...