Entscheidungsstichwort (Thema)

Leidensbedingte Reduzierung der Berufstätigkeit in der Berufsunfähigkeitsversicherung

 

Leitsatz (amtlich)

Zunehmende Einschränkungen der Berufstätigkeit haben in der Berufsunfähigkeitsversicherung bei dem erforderlichen Vergleich der aktuellen Berufsfähigkeit mit derjenigen in gesunden Tagen auch dann unberücksichtigt zu bleiben, wenn sie nicht nachweislich ausschließlich leidensbedingt erfolgt sind.

 

Normenkette

VVG § 172 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Gießen (Urteil vom 04.06.2020; Aktenzeichen 5 O 370/17)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das am 04.06.2020 verkündete Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Gießen wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das angefochtene und das vorliegende Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 115 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

 

Gründe

I. Die Klägerin macht gegen die Beklagte Ansprüche auf bedingungsgemäße Leistungen aus drei Berufsunfähigkeitszusatzversicherungen geltend.

Die 1961 geborene Klägerin unterhält bei der Beklagten seit dem 01.07.1989 zu Versicherungsnummer ... eine kapitalbildende Lebensversicherung nebst Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die im Falle bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vierteljährliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 1.533,88 EUR sowie eine vierteljährliche Zusatzrente aus Überschussbeteiligung in Höhe von 907,84 EUR zusagt.

Ferner unterhält die Klägerin bei der Beklagten einen weiteren Vertrag über eine Lebensversicherung mit Berufsunfähigkeitszusatzversicherung mit der Nummer ..., die im Falle bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vierteljährliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 3.067,75 EUR sowie eine vierteljährliche Zusatzrente aus Überschussbeteiligung in Höhe von 970,69 EUR vorsieht.

Unter der Versicherungsnummer ... unterhält die Klägerin einen dritten Vertrag über eine Lebensversicherung nebst Berufsunfähigkeitszusatzversicherung, die im Falle bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit eine vierteljährliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 16.479,33 EUR sowie eine vierteljährliche Zusatzrente aus Überschussbeteiligung in Höhe von 6.295,83 EUR zusagt.

Den Verträgen liegen die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die kapitalbildende Lebensversicherung sowie die Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (im Folgenden: BBZ) zugrunde. Nach § 1 Abs. 1 BBZ erbringt die Beklagte die vereinbarten Leistungen, wenn die versicherte Person während der Dauer der Zusatzversicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig wird.

Die Klägerin ist seit 1993 als niedergelassene Fachärztin für Gynäkologie in einer Gemeinschaftspraxis tätig, in der sowohl sie als auch ihr Ehemann - ebenfalls Gynäkologe - zunächst eine Vollzeittätigkeit ausübten. Zum 01.01.2013 veranlasste die Klägerin die Umwandlung einer Hälfte ihres Kassensitzes in einen Angestelltensitz, auf dem ihr Ehemann, der seinen Kassensitz veräußert hatte, tätig wurde. Die Klägerin arbeitete fortan nur noch 15 bis 20 Stunden in der Woche. Nachdem ihr Ehemann aus Altersgründen ausschied, verkaufte die Klägerin ihren Sitz zum 01.10.2015. Seither arbeitete sie nur noch wenige Stunden in der Woche in der Versorgung von Privatpatienten.

Im September 2015 beantragte die Klägerin wegen orthopädischer und psychischer Beschwerden bei der Beklagten Leistungen aus den Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherungen. In dem Antrag gab sie an, an vier Tagen in der Woche zehn bis zwölf Stunden täglich gearbeitet zu haben, und legte ihre Praxistätigkeit näher dar. Die Beklagte stellte die Inhalte der Einzeltätigkeit unstreitig.

Die Klägerin sucht am 02.10.2015 A auf, der eine leichte depressive Episode diagnostizierte und eine Psychotherapie empfahl. Die Klägerin begab sich in Behandlung von Frau B, die die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode, stellte.

Die Beklagte trat in die Leistungsprüfung ein und holte ein neuropsychiatrisches Gutachten von C ein, der zu dem Ergebnis gelangte, es liege eine leichte bis mittelgradige depressive Episode vor. Die Klägerin sei zu 25 % in ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt und könne den Praxistätigkeiten noch in einem Umfang von 15 Wochenstunden nachgehen, so dass sie ihren Beruf, eine Wochenarbeitszeit von 20 Stunden zugrunde gelegt, zu 75 % ausführen könne.

Darüber hinaus holte die Beklagte ein orthopädisches Gutachten von D ein, der zu dem Ergebnis gelangte, auf orthopädischem Fachgebiet lägen keine funktionellen Störungen vor, die die Berufsausübung beeinträchtigten. Die Beschwerden, über die die Klägerin klage, seien aus orthopädischer Sicht nicht objektivierbar. Einen Verdacht auf Simulation oder Aggravation verneinte er.

Die Beklagte lehnte d...

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