In mehreren Normen der StVO wird bei bestimmten Fahrvorgängen gefordert, dass eine "Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer" auszuschließen ist. Diese Vorgabe wird gerne als "Kardinalspflicht im Straßenverkehr" bezeichnet. Kommt es daher in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrvorgang, bei dem eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen ist, zu einem Unfall, liegt es nahe, demjenigen, der die "Kardinalspflicht im Straßenverkehr" zu beachten hatte, eine (Mit-)Haftung anzulasten.
Hierbei muss aber geprüft werden, wer überhaupt als "anderer Verkehrsteilnehmer" gilt. Zunächst liegt es nahe, damit alle zu meinen, die sich im Straßenverkehr befinden. Grundsätzlich ist auch jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, das heißt körperlich unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt, als anderer Verkehrsteilnehmer anzusehen. Allerdings gilt dies beim Wechsel des Fahrstreifens nicht uneingeschränkt. Bei einem Fahrspurwechsel ist im Rahmen des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO ein "anderer Verkehrsteilnehmer" nur ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs. Also nicht der vom Fahrbahnrand An- und in den fließenden Verkehr Einfahrende (BGH NJW 2022, 1810).
Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm, ihrer systematischen Stellung und insbesondere aus ihrem Sinn und Zweck. Danach enthält § 7 StVO eine Ausnahme vom Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO. Da aber das Rechtsfahrgebot nur dem Schutz des fließenden Verkehrs dient, muss dieser beschränkte Schutzzweck auch für die Ausnahmevorschrift des § 7 StVO und damit auch für § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO gelten.
Kommt es daher zu einer Kollision zwischen einem Fahrstreifenwechsler und einem Verkehrsteilnehmer, der vom Fahrbahnrand anfährt, kann sich der Anfahrende nicht darauf berufen, als "anderer Verkehrsteilnehmer" im Sinne des § 7 Abs. 5 Satz 1 StVO zu gelten. Umgekehrt muss er sich aber gem. § 10 Satz 1 StVO so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Hierunter zählt beim Anfahren vom Fahrbahnrand insbesondere der fließende Verkehr.
Regelmäßig wird man bei einer solchen Konstellation daher von einer Alleinhaftung des Anfahrenden ausgehen können, es sei denn, diesem gelingt der Nachweis, dass der Fahrspurwechsler den bevorstehenden Anfahrvorgang hätte wahrnehmen können. Denn auch der Fahrspurwechsler muss mit vom Fahrbahnrand anfahrendem Verkehr rechnen. Wenn allerdings für ihn hierfür keine Anhaltspunkte gegeben waren, ist dessen Mithaftung nicht zu begründen.