ZPO § 511 Abs. 2 Nr. 1
Leitsatz
1. Ein Berufungsführer kann seine Berufung auch nach zwischenzeitlicher Beschränkung und Ablauf der Berufungsbegründungsfrist erweitern, sofern die erweiterten Anträge durch rechtzeitig vorgebrachte Anfechtungsgründe i.S.v. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ZPO gedeckt sind.
2. Regelmäßig kann deshalb erst zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz beurteilt werden, ob der Wert des Beschwerdegegenstandes die Beschwerdesumme erreicht. Solange diese Möglichkeit besteht, darf die Berufung nicht mit der Begründung als unzulässig verworfen werden, die Berufungssumme sei unterschritten.
3. Erweitert der Berufungsführer seine Berufung bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung wieder um den zurückgenommenen Teil und stellt in der mündlichen Berufungsverhandlung damit einen Antrag, dessen Wert die Berufungssumme übersteigt, ist die Berufung zulässig. (Leitsätze des Einsenders)
BGH, Beschl. v. 12.10.2022 – IV ZB 29/21
1 Sachverhalt
I. Die Parteien haben über Zahlungsansprüche aus einer Unfallversicherung und Auskunftsansprüche gestritten. Das LG hat der Klage zum Teil stattgegeben. Gegen das landgerichtliche Urteil hat der Kl. Berufung eingelegt, die er mit seiner Berufungsbegründung auf zurückgewiesene Ansprüche auf Freistellung, hilfsweise Zahlung, von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 717,31 EUR nebst Zinsen beschränkt hat. Das BG hat den Kl. in einem Hinweis- und Beweisbeschluss darauf hingewiesen, dass die Berufung hinsichtlich eines Teilbetrags von 119,57 EUR von vorneherein unbegründet sei. Der Kl. hat daraufhin seine Berufung in dieser Höhe zurückgenommen. Nach einem erneuten Hinweis, dass infolge der teilweisen BG die Berufungssumme nicht mehr erreicht sei, hat das BG die Berufung im Beschlusswege als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Kl. mit seiner Rechtsbeschwerde.
2 Aus den Gründen:
[4] II. Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
[5] 1. Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO in Verbindung mit § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich. Die Verwerfung der Berufung als unzulässig verletzt den Kl. in seinem Verfahrensgrundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, das es den Gerichten verbietet, den Beteiligten den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. Senat NJW-RR 2022, 426 Rn 6; NJW-RR 2018, 957 Rn 6).
[6] 2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
[7] a) Das BG hat ausgeführt, nach der teilweisen Rücknahme der Berufung betrage die Beschwer des Kl. nur noch 597,74 EUR. Der Wert des Beschwerdegegenstands erreiche die Berufungssumme von mehr als 600 EUR nicht mehr und die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO sei entfallen. Eine zunächst zulässige Berufung könne unzulässig werden, falls der Berufungsführer seinen Berufungsantrag willkürlich auf einen unterhalb der Berufungssumme liegenden Wert beschränke. Das erfasse Fälle, in denen der Berufungsführer aus eigener Entschließung, also nicht als Reaktion auf ein Verhalten seines Gegners, den Berufungsantrag nachträglich beschränke. Dabei komme es nicht darauf an, welches Motiv der Entschließung zugrunde liege. Die vom Kl. vorsorglich erklärte Anfechtung der teilweisen Klagerücknahme greife nicht. Die Berufungsrücknahme unterliege als Prozesshandlung nicht der Anfechtung nach den §§ 119 ff. BGB. Auch eine analoge Anwendung dieser Vorschriften verbiete sich, weil das Prozessrecht die Verfahrenslage weitgehend vor Unsicherheit schützen wolle und deshalb einen Widerruf von Prozesshandlungen nur in vorliegend nicht gegebenen Ausnahmefällen zulasse.
[8] b) Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
[9] aa) Es kann offenbleiben, ob die mit der Berufung angegriffene Beschwer des Kl. nach der teilweisen Rücknahme der Berufung die Berufungssumme des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht mehr erreicht hat, Auch wenn der Kl. seinen Berufungsantrag willkürlich, also aus eigener Entschließung und nicht als Reaktion auf ein Verhalten seines Gegners, auf einen unterhalb der Berufungssumme liegenden Wert beschränkt hat und seine Berufung damit zunächst unzulässig geworden ist (vgl. BGH WuM 2017, 220 Rn 8; NJW-RR 2009, 126 Rn 5), hat das BG die Berufung nicht wie geschehen verwerfen dürfen. Es hat dem Kl. jedenfalls die Möglichkeit genommen, das Rechtsmittel bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz wieder so zu erweitern, dass die Berufungssumme erreicht wird.
[10] Ein Berufungsführer kann seine Berufungsanträge – auch nach zwischenzeitlicher Beschränkung und nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist – erweitern, sofern die erweiterten Anträge durch rechtzeitig vorgebrachte Anfechtungsgründe im Sinne von § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ZPO gedeckt sind. Regelmäßig kann deshalb e...