Häufig wird die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung mit Fragen des Tatorts etc in Verbindung gebracht und die "Feststellungslast" des Tatrichters ins Gegenteil verkehrt: So judiziert z.B. das KG, bei innerörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitungen von 73 km/h statt erlaubter 50 km/h (= 46 % Überschreitung) müsse der Tatrichter für die Annahme fahrlässigen Handelns sogar besondere Umstände feststellen. Hier wird der Vorsatz als subjektives Merkmal unzulässigerweise auf eine einzige objektiv festgestellte Zahl reduziert, die zu einem Zweifelsschluss zulasten des Betroffenen führen soll, falls sich dieser nicht ausreichend entlasten kann. Das Ausmaß der Überschreitung ist danach nicht mit km/h zugrunde zu legen, sondern als relativer Wert, nämlich dem Verhältnis der gefahrenen Geschwindigkeit zur vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit. So soll bei Überschreitungen, die so erheblich sind, dass sie einem aufmerksamen und pflichtbewussten Kraftfahrer nicht entgangen sein können, bei Kenntnis von der Existenz der verletzten Geschwindigkeitsbeschränkung ein Vorsatz rechtsfehlerfrei vom Tatrichter bejaht werden dürfen. Gerade innerhalb geschlossener Ortschaften wird so oftmals leichter Vorsatz angenommen werden können.
Fahrzeugspezifische oder ortsbezogene Geschwindigkeit: Eine solche Kenntnis der Geschwindigkeitsbeschränkung kommt immer dort in Betracht, wo sich die zulässige Höchstgeschwindigkeit aus besonderen Umständen (z.B. wegen der Art des Fahrzeugs, der Örtlichkeit) ergibt, die jedem Fahrer bekannt sind:
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in deutlich innerörtlichen Bereichen (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO):
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Höchstgeschwindigkeit: 50 km/h |
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auf Straßen außerorts für Pkws (§ 3 Abs. 3 Nr. 2c StVO):
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Höchstgeschwindigkeit: 100 km/h |
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in verkehrsberuhigten Bereichen (Zeichen 325): Schrittgeschwindigkeit |
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in "Fahrradstraßen" (Zeichen 244): mäßige Geschwindigkeit |
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bei Lkw und Fahrzeugen mit Anhängern (§ 3 Abs. 3 Nr. 2a und b StVO: Höchstgeschwindigkeiten: 60 bzw. 80 km/h) |
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Straßen außerorts, wenn es um die Überschreitung der Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 km/h geht (§ 3 Abs. 3 Nr. 2c StVO). |
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Also: Überschreitet ein Betroffener die gemäß Zeichen 274 angeordnete zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um 100 km/h und die gemäß § 3 Abs. 3 Nr. 2c) StVO allgemein geltende zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 70 km/h, so liegt regelmäßig jedenfalls im Umfang der die allgemein zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h überschreitenden Höchstgeschwindigkeit Vorsatz vor. Aber: Vorsatz kann rechtsfehlerfrei nicht angenommen werden, wenn diese Annahme allein auf der Tatsache, dass auf einer Bundesstraße die außerörtliche absolute Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h erheblich überschritten wird, fußt. Bei 40 km/h bzw. 40 % Überschreitung soll dies aber i.d.R möglich sein. Es ist nämlich von dem Erfahrungssatz auszugehen, dass einem Fahrzeugführer die erhebliche Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit aufgrund der Fahrgeräusche und der vorüberziehenden Umgebung jedenfalls dann nicht verborgen bleibt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 40 % überschritten wird. Teils wird unterschieden: Bei Geschwindigkeiten ab 100 km/h sollen für rechtsfehlerfreie Vorsatzannahme 40 % Überschreitungen ausreichen, darunter 50 %.
Beschilderung: Während hierdurch unzweifelhaft eine sehr starke Indizwirkung ausgelöst wird, ist m.E. bei Beschilderung einer herabgesetzten Höchstgeschwindigkeit i.d.R. allenfalls eine sehr beschränkte Indizwirkung anzunehmen, und zwar höchstens dort, wo eine einfache Fahrlässigkeit in Form eines Augenblicksversagens sicher ausgeschlossen werden kann. Bekanntlich gibt es nämlich keinen Erfahrungssatz dahin, dass kein Kraftfahrer die durch ordnungsgemäß aufgestellte Verkehrszeichen angeordneten Verkehrsregeln "übersehen" könne. So lässt insbesondere die tatsächliche Feststellung einer "unübersehbaren Beschilderung" allein noch keinen zuverlässigen Schluss auf eine vorsätzlich begangene Geschwindigkeitsüberschreitung zu. Nicht einmal tatrichterliche Feststellungen dahin, rechts der Straße habe sich bereits "Wohn- und Industriebebauung" befunden sowie in kurzen Abständen rechts und links der Fahrbahn Bushaltestellen, reichen so nicht aus, eine Fahrlässigkeit nach Nichterkennen einer verdeckten Ortstafel zu begründen.
Die Rechtsprechung dagegen entnimmt auch hier oftmals die entscheidende Indizwirkung, die die grobe Fahrlässigkeit in bedingten Vorsatz umschlagen lässt, so bei
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großen weithin sichtbaren Beschilderungen |
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"deutlich sichtbarem Geschwindigkeitstrichter" |
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Einfahrt in eine Baustelle auf der Autobahn |
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gut sichtbarer beidseitiger und viermal wiederholter Geschwindigkeitsbegrenzung auf einer BAB |
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eindeutig und wiederholte Beschilderung (zunächst beidseitig 120 km/h mit Zusatzschild "Bodenwellen", dann zweimal 80 km/h beidseitig) auch auf dreispuriger Autobahn |
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Mehrfachbeschilderungen im Bereich einer bekannten Tunnelkette |
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