StPO § 137 § 140 § 228 § 329
1. Der Begriff "genügende Entschuldigung" in 329 Abs. 1 Satz 1 StPO darf nicht eng ausgelegt werden.
2. Nach § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO kann sich der Beschuldigte in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers seiner Wahl bedienen, und zwar unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen. Dieses aus der Verfassung abgeleitete Recht sichert seinen Anspruch auf ein faires Verfahren.
3. Zwar bestimmt § 228 Abs. 2 StPO für den Fall der nicht notwendigen Verteidigung, dass die Verhinderung des Verteidigers dem Angeklagten keinen Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung gibt. Rechtsstaatliche Prinzipien setzen der Anwendung dieser Vorschrift jedoch Grenzen.
(Leitsätze des Einsenders)
OLG Koblenz, Beschl. v. 27.7.2009 – 1 Ss 102/09
Mit Strafbefehl des AG Mayen vom 22.2.2008 wird dem Angeklagten zur Last gelegt, am 29.10.2007 durch die fahrlässige Verursachung eines Verkehrsunfalls drei Menschen teils schwer verletzt zu haben (wobei dem Strafbefehl nicht zu entnehmen ist, warum der Unfall für den Angeklagten "vorhersehbar und bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt vermeidbar" gewesen sein soll).
Bereits am 7.11.2007 hatte der Angeklagte Rechtsanwalt Dr. F mit seiner Verteidigung beauftragt. Der Verteidiger gehört zwar einer Kanzlei mit zahlreichen Rechtsanwälten an; die Vollmacht ist jedoch auf ihn allein beschränkt. Mit Schriftsatz vom 8.1.2008 an die Staatsanwaltschaft hatte er die Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO beantragt.
Nachdem der Angeklagte gegen den Strafbefehl form- und fristgerecht Einspruch eingelegt hatte, bestimmte das AG – ohne vorherige Kontaktaufnahme mit dem Verteidiger – Hauptverhandlungstermin auf den 9.4.2008, 11:30 Uhr.
Die dem Angeklagten ordnungsgemäß zugestellte Ladung ging dem Verteidiger am 18.3.2008 zu. Dieser teilte mit Faxschreiben vom 19.3.2008 mit, er habe am 9.4.2008 einen schon seit längerem anberaumten Gerichtstermin vor dem AG Hadamar wahrzunehmen; der Gerichtstermin "ist daher aufzuheben". Diese Eingabe blieb beim AG Mayen mehr als zwei Wochen unbearbeitet liegen.
Die zuständige Richterin reagierte erst mit Schreiben vom 7.4.2008 an den Verteidiger:
Zitat
… bleibt der Hauptverhandlungstermin vorläufig bestehen.
a) Sie sind eine Anwaltskanzlei mit 23 Anwälten, sodass ich davon ausgehe, dass einer der Kollegen sicherlich den Termin wahrnehmen kann, insbesondere da es sich um einen einfach gelagerten Sachverhalt handelt.
b) Es muss festgestellt werden, dass bisher in jedem Verfahren, das beim AG – Strafrichter/Jugendrichter – in Mayen anhängig war, von Ihnen ein Antrag auf Aufhebung des anberaumten Termins gestellt wurde.
Mit Schreiben vom 8.4.2008 wies Rechtsanwalt Dr. F darauf hin, dass er alleiniger Verteidiger sei und sich nicht teilen könne; die Behauptung, bisher seien in jedem Verfahren Verlegungsanträge gestellt worden, sei unrichtig; tatsächlich gestellte Anträge seien immer sachlich begründet gewesen. Zugleich lehnte er namens seines Mandanten die Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
Obwohl beim AG Mayen bekannt sein musste, dass Rechtsanwalt Dr. F entweder beim AG Hadamar bzw. auf dem Weg dorthin oder auf dem Weg nach Mayen ist, wurde die dienstliche Erklärung der abgelehnten Richterin am 9.4.2008 um 10:27 Uhr mit einer Frist zur Stellungnahme bis 11:15 Uhr per Fax in die Kanzlei des – dort nicht anwesenden – Verteidigers übermittelt. Nach Fristablauf wurde das Ablehnungsgesuch als unbegründet zurückgewiesen.
Zu Beginn der Hauptverhandlung um 11:32 Uhr waren weder der Angeklagte noch sein Verteidiger anwesend. Daraufhin wurde der Einspruch gem. § 412 StPO verworfen.
Gegen die Verwerfung legte der Angeklagte "Rechtsmittel" ein und beantragte außerdem Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er trug u.a. vor, sein Verteidiger habe bereits vor Zugang der Ladung durch das AG Mayen mit einem Richter M vom AG Hadamar mehrere Hauptverhandlungstermine für den 9.4.2008 von 10:00 Uhr bis 11:30 Uhr abgesprochen gehabt und diese auch wahrgenommen. Er – der Angeklagte – sei von seinem Verteidiger dahingehend informiert worden, dass er zum Termin vor dem AG Mayen nicht erscheinen müsse.
Obwohl überhaupt noch keine Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag ergangen war – die Entscheidung des AG erging am 2.2.2009, die ebenfalls für den Angeklagten negative Beschwerdeentscheidung am 16.4.2009, bestimmte die Vorsitzende der Berufungskammer entgegen § 315 Abs. 2 Satz 2 StPO Hauptverhandlungstermin auf den 27.11.2008. Mit Urt. v. selben Tage wurde die Berufung als unbegründet verworfen. In den schriftlichen Urteilsgründen heißt es:
Zitat
Der Angeklagte ist der Auffassung, sein Fernbleiben in der Hauptverhandlung I. Instanz sei entschuldigt. Sein Verteidiger habe ihm – was dieser im Übrigen bestätigt hat – seinerzeit erklärt, er brauche der gerichtlichen Ladung keine Folge leisten, weil das AG verpflichtet sei, den Termin zu verlegen. Auf diese Auskunft habe er vertraut und auch vertrauen dürfen, wenngleich ihm durcha...