VVG § 56 a.F.; VGB 88 § 16
Enthält ein Vertrag über eine Wohngebäudeversicherung auch eine Rohbauversicherung, so bestimmt sich bei einem den Rohbau betreffenden Versicherungsfall der für die Frage der Unterversicherung maßgebende Versicherungswert nach dem tatsächlichen Wert des Rohbaus unmittelbar vor dem Schadensfall.
OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.2.2010 – 12 U 167/09
Die Klägerin nimmt den beklagten Versicherer aus einer Gebäudeversicherung im Zusammenhang mit einem Brandschaden an ihrem Rohbau in Anspruch. Die Parteien streiten zuletzt noch darüber, ob hier eine die Entschädigung mindernde Unterversicherung vorliegt, und ob die Beklagte für Mietausfälle und Kostenerhöhungen wegen verzögerter Regulierung einzustehen hat.
Das LG hat der Klage nur teilweise stattgegeben. Zur Begründung der teilweisen Klageabweisung hat es u.a. ausgeführt, die Klägerin müsse wegen Unterversicherung eine proportionale Kürzung des Entschädigungsbetrages hinnehmen. Abzustellen sei insoweit nicht auf den Versicherungswert des Rohbaus am Schadenstag (12.978 M), sondern auf denjenigen des Gebäudes im zu erwartenden Fertigstellungszustand, der nach dem eingeholten Gerichtsgutachten 21.638 M betrage und damit deutlich über der Versicherungssumme von 14.300 M liege. Dies folge aus dem Willen der Parteien nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte, andernfalls trüge die Beklagte während der Bauphase stets das volle Schadensrisiko. Zudem könne die Klägerin entgangene gewerbliche Miete nicht verlangen, da dies vertraglich nicht vereinbart worden sei und ein denkbarer Anspruch aus Verzug nach §§ 280, 286 BGB jedenfalls daran scheitere, dass die Klägerin ein derartiges Mitverschulden treffe, welches einen etwaigen Anspruch in voller Höhe mindern würde. Die Klägerin habe es unterlassen, den Auftragnehmer im Rahmen der werkvertraglichen Gewährleistung oder des allgemeinen Schadensersatzrechts auf rechtzeitige (Wieder-)Herstellung des Gebäudes in Anspruch zu nehmen. Aus denselben Erwägungen heraus könne die Klägerin auch keinen Ersatz für gestiegene Preise und Umsatzsteuer verlangen, sie habe die Wiederherstellung des Gebäudes nicht unverzüglich veranlasst. Für die Sachverständigen- und Ingenieurkosten fehle es an einer Grundlage.
Aus den Gründen:
“… Die zulässige Berufung der Klägerin ist überwiegend begründet.
1. … Das LG hat allerdings zu Unrecht den Anspruch der Klägerin wegen Unterversicherung gekürzt. Hierfür bieten weder der Versicherungsvertrag noch die zugehörigen Bedingungen eine tragfähige Grundlage. Zur Unterversicherung bestimmt § 16 Nr. 1 der Allgemeinen Wohngebäude-Versicherungsbedingungen (VGB 88):
‘Ist die Versicherungssumme niedriger als der Versicherungswert unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalls (Unterversicherung), so wird nur der Teil des nach § 15 Nr. 1 bis 3 ermittelten Betrages ersetzt, der sich zu dem ganzen Betrag verhält wie die Versicherungssumme zu dem Versicherungswert.’
Dieser Vorschrift kann nicht entnommen werden, dass unter Versicherungswert etwas anderes zu verstehen ist, als der tatsächliche Wert (hier: Neuwert) des (Teil-)Gebäudes unmittelbar vor dem Schadensfall.
AVB sind Allgemeine Geschäftsbedingungen des Versicherers i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB. Dieser Charakter der Versicherungsbedingungen bestimmt die bei ihrer Auslegung anzuwendenden Maßstäbe; er hindert es, sie ‘gesetzesähnlich’ auszulegen. …
Der Versicherungsnehmer wird, wenn er sich über die Gefahr einer Unterversicherung und deren Folgen anhand der Versicherungsbedingungen unterrichten will, Aufklärung lediglich in § 16 Nr. 1 VGB 88 finden. Dort wird er erkennen, dass keine Unterscheidung zwischen der Versicherung eines fertigen Gebäudes und der eines Rohbaus vorgenommen wird. Er wird ferner erkennen, dass der Unterversicherungseinwand an zwei Werte anknüpft, nämlich an die Versicherungssumme und an den Versicherungswert. Dabei ist der erste Wert ersichtlich ein vereinbarter. Der zweite Wert ist dagegen aus seiner Sicht ein tatsächlicher, der auf einen bestimmten Zustand unmittelbar vor dem Versicherungsfall beruht. Anhaltspunkte dafür, dass dies bei der Rohbauversicherung anders sein soll, ergeben sich für ihn nicht. Der Umstand, dass er zu Beginn der Rohbauphase ‘überversichert’ ist, wird ihn, sollte er sich dies verdeutlichen, nicht belasten, da er für diesen Zeitraum ohnehin keine Prämie zahlt. Da ihm während dieser Zeit im Schadensfall auch nicht die Versicherungssumme als Entschädigung zusteht, sondern der ortsübliche Neubauwert seines unfertigen Gebäudes, wird er auch nicht annehmen, dass vorrangige Interessen des Versicherers ein abweichendes Verständnis gebieten. Dass er noch während der Rohbauphase in die Gefahr einer Unterversicherung geraten kann, wird sich für ihn nicht anders darstellen als die Gefahr einer Unterversicherung des fertig gestellten Gebäudes. Dass unter Versicherungswert in der Rohbauversicherung etwas anderes verstanden werden sollte, als in der Wohngebäudeversicherung, erschließt sich deshalb für ihn a...