StVG § 17; StVO § 3 Abs. 1 § 8 Abs, 1 S. 2 Nr. 1
Leitsatz
1) Bei der Kollision eines bevorrechtigten Fahrzeuges mit einem wartepflichtigen Fahrzeug im Vorfahrtsbereich spricht grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für eine unfallursächliche Vorfahrtverletzung des Wartepflichtigen.
2) Die für einen Anscheinsbeweis erforderliche Typizität wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass eine Überschreitung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit des Vorfahrtberechtigten vorliegt, wenn für den im Einbiegen befindlichen Wartepflichtigen das vorfahrtberechtigte Fahrzeug erkennbar war.
3) Gibt der Vorfahrtberechtigte dem Wartepflichtigen durch einen Verkehrsverstoß Veranlassung, die Wartepflicht zu verletzen, kann die kritische Verkehrslage bereits vor der Vorfahrtverletzung eingetreten sein. Der Ursachenzusammenhang zwischen der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und einem Verkehrsunfall ist dann zu bejahen, wenn zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre.
(Leitsätze der Schriftleitung)
LG Saarbrücken, Urt. v. 30.12.2019 – 13 S 66/19
Sachverhalt
Der gegenüber kreuzendem Verkehr wartepflichtige Kl. wollte mit seinem Kfz die auf einer Kuppe liegende Kreuzung überqueren. Auf der vorfahrtsberechtigten Straße näherte sich der Fahrer des bei der Bekl. haftpflichtversicherten Kraftrades von links dem Kreuzungsbereich. Dort kollidierte er mit dem inzwischen in den Kreuzungsbereich eingefahrenen Pkw des Kl. und verstarb noch an der Unfallstelle. Mit der Klage hat der Kl. seinen Sachschaden geltend gemacht und zur Begründung ausgeführt, der Fahrer des Kraftfrades habe die für seine Fahrbahn zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h mit einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h überschritten und sei für den langsam in den Kreuzungsbereich einfahrenden Kl. nicht sichtbar gewesen, sodass der Unfall für ihn unvermeidbar gewesen sei. Das AG hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Die Berufung des Kl., der sein Klagebegehren weiterverfolgt, hatte teilweise Erfolg.
2 Aus den Gründen:
"…"
[7] 1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Bekl. als auch der Kl. grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies ist zutreffend und wird von der Berufung auch nicht in Zweifel gezogen.
[8] 2. Weiterhin hat das Erstgericht einen Verstoß des Kl. gegen § 8 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StVO (Vorfahrt) angenommen. Auch dies hält einer berufungsgerichtlichen Überprüfung stand.
[9] a) Vorliegend hatte der aus der (…) kommende Verkehr aufgrund der Verkehrszeichenreglung (Zeichen 206 “STOP') dem auf der (…)-Straße fahrenden Verkehr die Vorfahrt zu gewähren, d.h. eine Einfahrt in den Kreuzungsbereich durfte nur erfolgen, wenn der bevorrechtigte Verkehr dadurch weder gefährdet noch wesentlich behindert wurde (§ 8 Abs. 2 S. 2 StVO).
[10] b) In der Rspr. ist anerkannt, dass bei einem Zusammenstoß eines bevorrechtigten Fahrzeugs mit einem wartepflichtigen Fahrzeug im Vorfahrtsbereich grundsätzlich ein Anscheinsbeweis für eine unfallursächliche Vorfahrtsverletzung durch den Wartepflichtigen spricht (BGH, st. Rspr.; vgl. BGH, Urt. v. 15.6.1982 – VI ZR 119/81, VersR 1982, 903 m.w.N.; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urt. v. 28.3.2014 – 13 S 196/13, Zfs 2014, 446 m.w.N.; Urt. v. 29.4.2016 – 13 S 3/16, NJW-RR 2016, 1307 m.w.N.).
[11] c) Das “Kerngeschehen' (hier einer Vorfahrtssituation) als solches ist nach der Rspr. des BGH (Urt. v. 13.12.2016 – VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177 m.w.N. zu den Grundsätzen des Anscheinsbeweises am Beispiel des Auffahrunfalls) als Grundlage eines Anscheinsbeweises allerdings dann nicht ausreichend, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur aufgrund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben. Steht jedoch nicht fest, ob über das – für sich gesehen typische – Kerngeschehen hinaus Umstände vorliegen, die, sollten sie gegeben sein, der Annahme der Typizität des Geschehens entgegenstünden, so bestehen gegen die Anwendung des Anscheinsbeweises keine Bedenken. Ist also ein Sachverhalt unstreitig, zugestanden oder positiv festgestellt, der die für die Annahme eines Anscheinsbeweises erforderliche Typizität aufweist, so obliegt es demjenigen, zu dessen Lasten der Anscheinsbeweis angewendet werden soll, darzulegen und gegebenenfalls, zu beweisen, dass weitere Umstände vorliegen, die dem feststehenden Sachverhalt die Typizität wieder nehmen; er hat den Anscheinsbeweis z...