Viele Verteidiger verfolgen mithilfe der herausgegebenen Unterlagen das Ziel, technisch-physikalische Privatgutachten durch einen Privatsachverständigen einzuholen, die bestenfalls dann Messfehler oder Ungenauigkeiten aufzeigen. Es bleibt abzuwarten, ob mit der Entscheidung wirklich eine steigende Zahl von Sachverständigengutachten einhergeht. Bedauerlicherweise hat das BVerfG offengelassen, welche Unterlagen/Informationen im Einzelnen offengelegt werden müssen, obwohl durchaus Anlass zu einer Klarstellung bestanden hätte. Es kann fortan ohne Weiteres neben den oben genannten Aktenteilen ergänzende Akteneinsicht in die Rohmessdaten der gesamten Messreihe in unverschlüsselter Form sowie die Vorlage der Anordnung der zuständigen Straßenverkehrsbehörde über das geschwindigkeitsbeschränkende Verkehrszeichen nach § 45 StVO beantragt werden, um zu prüfen, ob die Geschwindigkeit an dieser Stelle durch wirksamen Verwaltungsakt und durch die zuständige Stelle beschränkt wurde. Sollten die zuvor benannten Informationen nicht übersandt werden, kann in diesem Zuge seitens des Rechtsanwalts die Einstellung des Bußgeldverfahrens gem. § 47 OWiG beantragt werden. Nach vorläufiger Einschätzung ist die Entscheidung des BVerfG noch nicht bei den Amtsgerichten "angekommen". Letztere versuchen regelmäßig, ergänzende Akteneinsichtsgesuche abzuwehren, mit Verweis darauf, dass in einigen Bundesländern keine "Lebensakte" geführt werde. Es sind neue Schriftblöcke in Umlauf, nach denen auch die Rohmessdaten – soweit die nicht gespeichert werden – nicht von den Bußgeldstellen übermittelt werden müssten. Auch die Übersendung der gesamten Messreihe wird teilweise abgelehnt, zumal sich dazu das BVerfG nicht explizit geäußert hat. In diesem Zusammenhang wird ein Urteil des AG St. Ingbert v. 13.1.2021 zitiert. Es ergäben sich aus den Daten der gesamten Messreihe nach der – öffentlich zugänglichen – Stellungnahme der Physikalischen technischen Bundesanstalt (PTB) v. 30.3.2020 keine brauchbaren Erkenntnisse für die gegenständliche Messung. Im Übrigen wären datenschutzrechtliche Belange anderer Verkehrsteilnehmer, auf die sich solche Daten beziehen, massiv tangiert. Um Letzteres zu verhindern, bedürfte es eines sehr aufwändigen Procederes, die Daten dieser anderen erfassten Verkehrsteilnehmer unkenntlich zu machen. Das OLG Jena hat dagegen in einer eindrucksvollen Entscheidung sogar einen Anspruch des Betroffenen auf die mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehende Messreihe, d.h. die gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze, angenommen. Im Beschluss heißt es, dass "nach Maßgabe der sog. Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (…) dazu auch der Anspruch auf – durch die Verteidigung vermittelte – Einsicht außerhalb des gerichtlich anhängigen Strafverfahrens in solche Unterlagen (gehört), die zum Zwecke der Ermittlung anlässlich des Verfahrens entstanden, aber nicht zur Akte genommen worden sind, und deren Beiziehung seitens des Fachgerichts unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet wird. Macht der Beschuldigte geltend, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus diesen keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die Einsicht in solche Akten regelmäßig nicht zu versagen sein. Das Oberlandesgericht erkannte auf einen Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz, allerdings nur dann, wenn einem rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten angebrachten Zugangsgesuch nicht entsprochen worden sei. Die vom Bundesverfassungsgericht für die Gewährung des Informationszugang geforderte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung lasse sich nicht mit der Erwägung verneinen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin kein für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Einzelmessung erheblichen Erkenntnisse gezogen werden könnten. Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lasse sich auch nicht wegen entgegenstehender Interessen der betreffenden Verkehrsteilnehmer ablehnen. Gegenüber der gebotenen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren seien die Persönlichkeitsrechte Dritter regelmäßig nachrangig. "
Es bleibt abzuwarten, ob die Amtsgerichte vor dem Hintergrund der Entscheidung des BVerfG nun eine echte Korrektur ihrer Linie vornehmen oder nur neue kreative Hürden hervorbringen. Anträgen der Verteidiger auf Aussetzung des Verfahrens zum Ziel der Erlangung der Rohmessdaten sowie der Bedienungsanleitung wird derzeit mehrheitlich Folge geleistet.